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Dr. phil. Barbara Picht

„Die ‚Interpreten Europas‘ und der Kalte Krieg“ (Habilitationsprojekt)

Nach 1945 sahen sich die europäischen Gesellschaften vor der Notwendigkeit, den jeweiligen nationalen wie europäischen „Ort“ zu bestimmen, an dem sie sich sahen und den sie im Ost-West-Spannungsfeld konkurrierender Vorstellungen von politischer und gesellschaftlicher Ordnung (kultur-) historisch zu legitimieren versuchten. Das Habilitationsprojekt „Die ‚Interpreten Europas‘ und der Kalte Krieg“ vergleicht signifikante (national-) kulturelle Selbstentwürfe im Europa der Nachkriegszeit und legt dabei den Schwerpunkt auf Geschichte und Literatur als zentralen Diskursen der nationalen Identitätskonstruktionen.

Nicht das in den Dienst der Politik gestellte Expertenwissen rückt damit in den Blick, sondern Entstehen und Wirkungskraft historischer Selbstauslegungen, mit denen Geschichts- und Literaturwissenschaften eigenmotiviert zur Gestaltung Europas nach 1945 beizutragen beanspruchten.

Aus Frankreich, der BRD, der DDR und Polen wurde das Werk je eines Historikers und je eines Literaturwissenschaftlers beispielhaft gewählt, mit dem sie an den wissenschaftlichen Aushandlungsprozessen nach 1945 einen wichtigen Anteil hatten (dass keine Frau darunter ist, resultiert aus der männlichen Dominanz in den Wissenschaftssystemen der Zeit): Fernand Braudel und Robert Minder in Frankreich, Werner Conze und Ernst Robert Curtius in der BRD, Walter Markov und Werner Krauss in der DDR und Oskar Halecki und Czesław Miłosz in Polen. Die Exilperspektive Haleckis und Miłoszs ermöglicht es dabei, offen oppositionelle Haltungen gegenüber dem kommunistischen System und eine transatlantische Perspektive mit einzubeziehen.

Auffallend ist, dass die Systemkonfrontation in den Programmatiken dieser Historiker und Literaturwissenschaftler eine eher geringe Rolle spielt. Es begegnet einem in ihren Texten bis in die sechziger Jahre hinein weit mehr ungeteilt gedachtes Europa als Kalter Krieg. Welche Zeitdiagnosen und welches historische Denken „begegneten“ hier dem Kalten Krieg? Wie konnte an Europa- und Nationenverständnissen festgehalten werden, die aus heutiger Perspektive entweder zu Vor- und Zwischenkriegszeit oder sogar zu den Jahrzehnten seit 1989 viel eher zu passen scheinen als zu den Hochphasen des Kalten Krieges? Liefen wissenschaftliche Deutung und politische Ordnung auseinander? Das transnational vergleichende Projekt soll zu Antworten auf die Frage führen, inwiefern die verhandelten Selbst- wie Fremddeutungen national, inwiefern sie europäisch und worin sie durch den Ost-West-Gegensatz des Kalten Krieges bestimmt waren.