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Was sind vergleichende Mitteleuropastudien?

Der Lehrstuhl für Vergleichende Mitteleuropastudien widmet sich Lehre und Forschung im sozialen und kulturellen Bereich bezogen auf historische und moderne Gesellschaften Mitteleuropas. Dieses umfasst ein Gebiet von den Baltischen Ländern bis hin zum Balkan und von der Ukraine/Belarus bis zu den östlichen Teilen Österreichs  und Deutschlands. Dabei werden die Grenzen dieser Region als Orientierungspunkt für Forschungsfragen und wichtige soziale sowie kulturelle Themen sehr flexibel perzipiert. Der Wechselbeziehungen zwischen den Phänomenen in dieser Region und größeren regionalen sowie globalen Ereignissen kommt dabei außerordentliche Bedeutung zu.

Diese Auffassung von Mitteleuropa ist ein im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts entwickeltes Konzept, das den politischen Zielen des Preußischen und Habsburger Reiches dienen sollte. In der Zwischenkriegszeit wurde ein neuer Entwurf Mitteleuropas (Stredni Evropa, Europa Srodkowa) von Politikern verschiedener Länder, die nach einer neuen Identität suchten (wieder-)erfunden. Später, im Europa der Nachkriegszeit, besonders in den 1970er und 1980er Jahren, wurde eben diese Idee von Intellektuellen wieder aufgegriffen. Sie nutzten sie als Symbol in ihren Versuchen die Satellitenstaaten von der kommunistischen Vorherrschaft zu befreien. Die politische Funktion dieses Konzepts wurde nach 1989 wie auch nach der Osterweiterung der Euopäischen Union im 21. Jahrhundert neu definiert.

Gegenwärtige Forschungsvorhaben des Lehrstuhls können zusammenfassend in drei nachfolgend beschriebene Themenbereiche unterteilt werden.

Der Sozialismus wird allgemein als ein Regime wahrgenommen, das individuelle Initiative beschnitt und soziale Anomie hervorrief. Obwohl wichtige Argumente diese Sicht auf jene politische Formation begründen, ist die tatsächliche Situation wesentlich vielschichtiger zu sehen. Vereinfachte dichotome Ansichten des schlechten 'Kommunismus' und des guten 'Postsozialismus' können nicht aufrechterhalten werden. Um Kontinuität und Diskontinuität sozialer Praktiken vor 1989 erklären zu können, müssen komplexere Untersuchungen unternommen werden. Die diesbezüglichen Forschungstätigkeiten decken folgende Themen ab: Sich ändernde Klassenverhältnisse, ländliche und unternehmerische Gemeinschaften in der Transformation, Zivilgesellschaft wie auch sozialer Opportunismus und Widerstand innerhalb der Gesellschaft.

n mittel- und osteuropäischen Gesellschaften finden, wie überall, fortwährend Fremdwahrnehmungsprozesse statt. Sie setzen verschiedene soziale Unterscheidungen voraus, die auf unterschiedlichen, sich überschneidenden Ebenen gemacht werden. Sie können als Klasse, Geschlecht, Land vs. Stadt, kulturelle sowie ethnische und nationale Unterscheidungen identifiziert werden. Diese Prozesse sind zwar immer kontextabhängig, es können aber dennoch wiederkehrende Mechanismen der Konstruktion des Anderen ausgemacht werden. In öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen ist besonders das Thema Nationalismus in Mitteleuropa sehr populär. All diese Themen sollten nicht nur erforscht, sondern auch "deeoxotisiert" werden.

Die Unterteilung in drei verschiedene Welten während des Kalten Krieges, mit der als Modell für Normalität erachteten Ersten Welt, wurde teilweise während der letzten Jahrhundertwende zerrüttet. Die Situation nach dem Kalten Krieg ruft die Frage hervor, ob und in welchem Maße postsozialistische und postkolonialistische Situationen verglichen werden können und was für Schlussfolgerungen sich daraus ergeben. Diese Thematik reicht bis zum Kern der Wissenschaft an sich: der Erforschung der Darstellungsarten der Welt, in diesem Fall der Darstellungsarten der nichtwestlichen ("Dritte Welt") und semiwestlichen ("Post-Zweite Welt") Gesellschaften in okzidentalen Diskursen sowie den hegemonischen Beziehungen und Hierarchien des Wissens im akademischen Betrieb.

Europäisierung ist ein kultureller Prozess, der in erster Linie durch politische und institutionelle Macht der EU angetrieben wird. Er führt zur Etablierung neuer Grenzen an den Rändern der EU. So verstanden gerät Europäisierung zunehmen in den Fokus der KulturanthropologInnen und europäischer EthnologInnen. Dieser facettenreicher, manchmal in sich widersprüchlicher Prozess, evoziert unterschiedliche kulturelle Resonanz an unterschiedlichen Orten, sowohl in-, als auch außerhalb Europas , sowohl in der EU selbst, als auch an ihrer Außengrenzen und in Gebieten, die durch europäische Herrschaft beeinflust werden. Dieser Prozess der Europäisierung ist ideologisch mit solchen “europäischen”,  “modernen” und “rationalen” Begriffen und Konzepten, wie Demokratie und Demokratisierung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Fortschritt/Entwicklung und Kultiviertheit erbunden. Seit der größten Erweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 hat er auch einen direkten Einfluss auf Alltagsleben im sog. postsozialistischen Raum. Was sind die lokalen, zentraleuropäischen Reaktionen auf diesen Prozess der Europäisierung? Was sind die Spannungen die er hervorruft angesichts seines starken ideologischen und wirkmächtigen kulturellen Untertons? Was sind die konkreten Folgen des kulturellen Austauschs, der im Einklang mit der (oder vielleicht gegen die) Europäisierung stattfindet?

Diese Fragen bilden den Forschungsschwerpunkt des Lehrstuhls für vergleichende Mitteleuropastudien. Wir befassen uns mit den lokalen kulturellen Antworten auf die Europäisierung und mit den Spannungen, die sie im Postblock und im postsozialistischen (EU)Raum evoziert. Diese Perspektive aus den semi-Periphärien der “modernen” und “europäischen” Welt ermöglicht gleichzeitig einen schärferen und kritischen Blick auf die Europäisierung selbst und auf das “Kerneuropa”. 

Europeanization as a cultural process stipulated by the political and institutional power of the EU leads to the emergence of new cultural boundaries on the limits of the EU-Europe. Understood in such way, it increasingly becomes in focus of research interest among cultural anthropologist and/or European ethnologists. This multifaceted, sometimes internally contradictive process evokes different cultural response in different locations around the continent and beyond; both within the EU and on its external limits and in areas affected by the European regime of governance. It is ideologically connected to such “European”, “modern” and “rational” notions as democracy and democratization, human rights, rule of law, equality, progress/development and civility. Since the biggest Enlargement of the EU in 2004 it is also a process that directly shapes the modes of everyday life among the so called postsocialist Europe. What are the local, Central European responses to this process? What are the tensions it creates given its strong ideological and powerful cultural undertone? What are the specific outcomes of cultural exchange occurring along (or counter) Europeanization?

These questions shape the research foci of the Chair of Comparative Studies of Central Europe. We scrutinize the local cultural responses to this ideological process called “Europeanization” and the tensions it evokes around “postblock” and postsocialist countries. Simultaneously, such view from the “semi-peripheries” of the “modern” and “fully-European” world enables to scrutinize “core Europe” and its Europeanization both in sharper and more critical way.