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"Hedging" als neue Kategorie? Ein Beitrag zur Diskussion von Gabriele Graefen, München

Eine R e p l i k von Gudrun Clemen

 

15.07.2000

 

1. George Lakoffs Pioniermodell und Weiterentwicklung des Hecken-Begriffs

Die "Hecke" (englisch: hedge, hedging) als sprachwissenschaftlicher Terminus geht auf George Lakoff (1972) zurück. Nach seiner Theorie modifizieren Hecken in der Regel Prädikate (im Sinne der Formalen Logik) hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer Kategorie. Lakoffs zentrales Anliegen ist nicht der qualitative Wahrheitswert, sondern es geht ihm um Abstufungen, da die Urteilswirklichkeit des Sprechers auf graduellen Merkmalen beruhe. Über die Probleme von vagueness und fuzziness gelangt Lakoff zum Konzept der Hedges, deren für ihn typische Formulierungen er in der Gemeinsprache exemplifiziert.

Lakoffs Konzept konnte nur eine erste Stufe in dem Erkennen eines sprachlichen Phänomens sein, denn er gab - ohne explizit darauf hingewiesen zu haben - nur eine Leitvorstellung, die er - vielleicht sogar durch das schon unmittelbar nach seinem spektakulären Artikel ausgelöste, oft heuristische Interesse an dem Thema - erweitern und ergänzen konnte, hätte er für seine Forschungsarbeit nicht andere Schwerpunkte gesetzt. Insoweit kann ihm ein "Defizit", z.B. bei der Nichtberücksichtigung der "durchaus vergleichbaren Funktionalität von Anführungszeichen", auf die Klockow (erst) 1976 hinweist, nicht angelastet werden, denn diese heckenfunktionale Variante wäre, wie die Forschungsarbeiten und -ergebnisse anderer Linguisten zeigen, nicht der einzige "Mangel" gewesen.

Lakoffs Konzept mußte unbefriedigend bleiben, ließ es doch viele Fragen, vor allem auch die später als so wichtig erkannten kontextuellen und situativen Gegebenheiten im Rahmen einer Äußerung, unberücksichtigt. Neue Betrachtungsformen und eine stärkere Hinwendung zu pragmatischer Betrachtungsweise in der Linguistik werden seit Mitte der 1970er Jahre dem sich abzeichnenden sog. Sprachwandel zugeschrieben. Die "große Attraktivität des Themas" hat sich also nicht, wie Graefen (1.3.) vermutet, aus einer "Art sozialpsychologischer Wendung" ergeben. Sie könnte auch eine Folge des durch unterschiedliche Kategorisierungen immer schwerer zu durchschauenden Terminus Hecke gewesen sein und des zunehmenden Bewußtwerdens seiner Vielschichtigkeit, die nach einem sinnvollen Ordnungsprinzip verlangte und für den Linguisten einen Reiz darstellte, neue Erkenntnisse zu gewinnen und mit dem eigenen Beitrag den Heckenkomplex transparenter zu machen.

Die Linguisten begannen die Hecke stärker unter pragmatisch-funktionaler Perspektive und unter dem Einfluß der Diskursanalyse zu betrachten. Damit entfernten sie sich zunehmend von dem Lakoffschen Pionierkonzept, das damit in andere Bahnen gelenkt wurde. Heckenfunktionale Sprachmittel werden inzwischen nicht nur als abschwächende und abmildernde Elemente gesehen, und ihr Aussagewert liegt auch nicht in isolierten Lexemen, weil Heckenfunktion, ko- und kontextgebunden, erst im sprachlichen Handeln entsteht. Heckenmarkierungen werden außerdem zur Stützung der interpersonalen Beziehungen verwandt, um subjektive Verfasserkommentierung und -einstellung zum Ausdruck zu bringen. Damit ist die Hecke in varianter Bedeutung pragmatischen Wechselwirkungen unterworfen, wodurch allerdings Abgrenzung und Quanifizierung problematisch werden.

Unter dem Terminus "Hedging" verstand man also inzwischen ein vielschichtiges Phänomen, das zu einer Pluralität von Ansätzen bei unterschiedlichsten Einschätzungen und divergierenden Anschauungen führte und immer wieder neue Unterscheidungs- und Zuordnungskonzepte provozierte. Die "Erfolgsgeschichte der 'hedges'" führte zwangsläufig zu einer heterogenen Forschungslage (mit zunehmend neuen durch englischsprachige Autoren geprägten englischen Termini), deren Knäuel viefältiger, oft widersprüchlicher Meinungen und unterschiedlicher Herangehensweisen nur schwer zu entwirren war. Die Fülle der vorliegenden, nach jeweils individuellen Sichtweisen und Zuordnungsschemata vorgestellten Arbeiten zum Thema und die mit ihnen erreichte Signalwirkung sind gleichwohl als ertragreich anzusehen, auch wenn die Forschung selbst scheinbar in eine "Sackgasse" (Graefen unter "Einleitendes") geraten ist, die aber - wie Entwickungsprozesse auf anderen Gebieten zeigen - durchaus eine Herausforderung bedeuten und dazu führen kann, mit neuen Gedanken und Vorschlägen dem Phänomen doch noch möglichst allgemein zu akzeptierende beschreibungsrelevante Konturen zu verleihen.

 

 

2. Die Termini approximator und shield

Im Rahmen der Diskursanalyse, die Sprechhandlungen unter interaktionsrelevanter, personaler und textueller Perspektive sieht, erhält die Heckenforschung ein neues Gesicht und weitere Impulse durch die Untersuchungen von Prince et al., die Hecken dichotom unterscheiden:

Approximators = den Wahrheitsgehalt der Proposition betreffend (exemplifiziert durch "His feet were SORT OF BLUE")

und

Shields = auf den Grad der Verantwortung, die der Sprecher für den Wahrheitsgehalt der Gesamtproposition übernimmt, bezogen (exemplifiziert durch "I THINK his feet were blue").

Der unter diskursanalytischer Perspektive konzipierte Ansatz läßt nicht erkennen "daß Lakoffs Funktionsbestimmung in zwei funktionale Aspekte zerlegt wurde, wobei die Schutzfunktion in den Vordergrund zu treten scheint" (Graefen unter "Einleitendes").

 

 

3. Die Hecke als "verbaler Schutzschild" (Graefen 1.2.)

Die Verwendung heckenfunktionaler Sprachmittel impliziert das Bestreben des an einer konfliktfreien Kommunikation interessierten Sprechers/Schreibers, sich möglichst nicht angreifbar zu machen. Eine Heckenmarkierung ist daher zugleich schutzintentional intendiert, sei es hinsichtlich der Verantwortung für Wahrheitsgehalt, Gültigkeit und Gewichtigkeit einer Proposition oder auch durch Kundgabe einer (subjektiven) Schreibereinstellung.

Das Element der mit einer Heckenformulierung verbundenen Schutzfunktion wird mehr oder weniger in allen Forschunsarbeiten betont, unabhängig von der jeweiligen Herangehensweise an das Thema Hedging, der Gewichtung der heckenfunktional eingesetzten Sprachmittel, der divergierenden Unterscheidungs- und Zuordnungskriterien und individuellen Einschätzungen und Benennung der heckenbewirkenden Realisatoren.

 

 

4. Hecken unter dem Aspekt der Diskursanalyse. Chafe und andere

Chafe (1986) ist nur einer der Linguisten, die sich eher "unkonventionell" mit dem Hedging-Problem auseinandersetzen. Hecken stellen für ihn nur eine von vier Kategorien von Evidentials dar, wobei er evidentiality als "any linguistic expression or attitude towards knowledge" definiert. Äußerungen oder Wendungen, die andere Linguisten i.d.R dem Heckenkomplex zurechnen, werden von Chafe unter anderen Bezeichnungen erfaßt; Hedges, die er primär der gesprochenen Sprache zuordnet, legt er nach Kategoriezugehörigkeit (wie Lakoff) und nicht nach der Zuverlässigkeit des Wissens fest. Die Ansicht von Graefen (1.3.), daß sich Chafe damit "für den anderen, bei Lakoff ebenfalls enthaltenen, mehr epistemologischen Ansatz" entschieden habe, vermag daher nicht einzuleuchten.

Epistemische Hecken unterscheiden sich von (z.B. auf Verfasserkommentierung/ -evaluierung und Impersonalisation ausgerichteten) Interpersonal Motivierten Hecken dadurch, daß sie vom Wissens- und Kenntnisstand des Textverfassers geprägt sind. Ein erhobener Geltungsanspruch erfährt Einschränkung durch sprachliche Mittel des Wissens, des Glaubens, der Wahrscheinlichkeit, des Zweifels, der in Betracht gezogenen Möglichkeit und Eventualität. Diese Kriterien waren nicht Grundlage des Lakoffschen Konzeptes, das von semantischen, nicht von diskursanalytischen Voraussetzungen, ausging.

Hedging wurde unter den unterschiedlichsten Gesichtspunkten diskutiert, und es war also nicht nur Chafe, der das Phänomen der Hecke im Rahmen der Diskursanalyse unter einem eigenwilligen Blickwinkel betrachtete. Um nur einige der individuell konzipierten Ansätze allein in der Kategorisierungsausrichtung und -benennung zu erwähnen, sei auf Prince et al. (1982) mit der Unterscheidung Approximators und Shields verwiesen, auf Hüblers (1983) Dichotomie von Hecken und Understatements, auf Skeltons (1997) Trichotomie Comment on Truth-Judgement, Comment on Value-Judgement und Hedges, auf Hylands (1996) Gruppierung nach Content-oriented, Reader-oriented (writer-oriented, accuracy-oriented/attribute hedges, reliability hedges.

 

 

5. Fuzziness

Die Fuzzy-Set-Theorie war Ausgangspunkt für die Untersuchungen von Lofti Zadeh (1965), der sich (neben Uriel Weinreich <1966>) mit dem Wesen des Hedging befaßte, ohne den Forschungsgegenstand zu jener Zeit "Hecke" zu nennen. Lakoff führte den Terminus "Hedge" (Hedging) für Modifikationen ein, die Prototypen qualifizieren, um Wörter und Wendungen zu bezeichnen, "whose job is to make things fuzzy or less fuzzy"(1972, 195). Hecken nach der Lakoffschen Theorie werden danach der Prototypensemantik als Modifikatoren im engeren Sinn zugeordnet; sie schließen abschwächende und verstärkende Elemente ein.

Der Einschluß von more-fuzzy Ausdrücken und less-fuzzy Ausdrücken in den Heckenkomplex wird unterschiedlich beurteilt. Die den more-fuzzy hedges entgegengesetzten less-fuzzy hedges (intensifiers, boosters) werden nicht generell als Hecke gewertet, können diesen Status jedoch dann erhalten, wenn man sie als Verfassereinstellung sieht, in der auch das bekräftigende Element wirksam werden kann.

Der Begriff "Fuzziness" ist ein Begleiter des Heckenthemas von Anfang an. Die von Graefen (1.3.) sich auf "die Einführung (!) von 'fuzziness' in der Beurteilung von Propositionen" beziehende Kritik und daß damit ein "negativ zu bewertender Fortschritt (!) gegenüber der traditionell logikorientierten Forschung vollzogen" worden sei, ist daher nur schwer verständlich.

Zu widersprechen ist auch der Vermutung (1.3.), daß "die hedge-Forschung problemlos (!) die Wissenschaftssprache denselben Kriterien wie die Alltagssprache unterwirft". Die Lakoffsche Liste von Heckenausdrücken mag sich primär auf Beispiele der Gemeinsprache beziehen (die je nach Kontext auch in der wissenschaftlichen Fachsprache verwendet werden); nach meiner Kenntnis übernehmen die Autoren jedoch Ausdrücke der Gemeinsprache nicht unreflektiert in den wissenschaftlichen Diskurs, wobei bekanntlich eine eindeutige Abgrenzung der in der wissenschaftlichen Fachsprache verwendeten sprachlichen Mittel von jenen der Gemeinsprache nicht möglich ist, weil bestimmte Ausdrücke und Wendungen in fast jeder Diskursform anzutreffen sind.

 

 

6. Wissenschaftssprache

6.1. Heckenfunktionale Sprachmittel in Wissenschaftstexten

Der mit dem Gesellschaftswandel einhergehende Sprachwandel, veränderte Wertvorstellungen und das heutige rationell ausgerichtete Informations- und Kommunikationsverhalten blieben nicht ohne Auswirkung auf den wissenschaftlichen Diskurs. Mit einem nüchterner und sachlicher gewordenen Sprech- und Schreibstil werden Höflichkeits- und Zurückhaltungsäußerungen sparsamer eingesetzt. Dabei bliebe zu prüfen, ob das dem Höflichkeitsfaktor zugeschriebene Heckenpotential damit generell rückläufig ist oder ob die relevanten Heckenmarkierungen bei Quantifizierungen anderen Funktionsträgern zugeordnet werden, denn die "Höflichkeits-Hecke" kann sich ja bekanntlich aus einer ganzen Reihe von Ausdrucksmitteln konstituieren. Zum Heckenkomplex zählende Sprachmittel, die Diplomatie und - im weitesten Sinne - Vorsicht (auch durch Vagheit) - ausdrücken, scheinen schon des praktischen Nutzens wegen, dem sie dienen, meist unentbehrlich, um über eine optimale Kommunikation den eigenen Zielen näher zu kommen - bei mehr oder weniger starker Berücksichtigung des anderen. Es sind die - heute als Hecke bezeichneten - Sprachmittel, die in der Kommunikation über die Jahrhunderte stabil geblieben zu sein scheinen, denn ihre Verwendung ist - im wissenschaftlichen Diskurs - schon im 17. Jahrhundert (Robert Boyle) belegt.

Der von Graefen (2.1.) geäußerten Ansicht, daß die Verfasser wissenschaftlicher Texte auf Heckenmarkierung verzichten, solange sie sich zu Sachverhalten auf ihrem eigenen Gebiet äußern, muß ich widersprechen, da nicht nur meine eigenen Untersuchungen wissenschaftlicher Texte das Gegenteil bestätigen; die Fülle der vorliegenden Forschungsarbeiten zum Thema belegen eindeutig die Verwendung heckenfunktionaler Sprachmittel in wissenschaftlichen Abhandlungen, wenn auch textabhängig in unterschiedlicher Vorkommenshäufigkeit. Dabei ist es unerheblich, nach welchen Kategorisierungsmustern, Gruppierungen, Merkmalsescheinungen oder Zuordnungsprinzipien der jeweilige Linguist ermittelt und quantifiziert. Daß sich Untersuchungen primär auf englische Fachtexte der Wissenschaftssprache stützen, ist gleichfalls nicht überzubewerten, denn auch bilingual erstellte Untersuchungen (Clemen 1998) weisen Vorkommensparallelitäten auf.

Graefen (2.1.) ist der Meinung, daß in wissenschaftlichen Texten für "relativierende Zusätze" (also heckenfunktionale Sprachmittel) "weder Grund noch Notwendigkeit" bestehe, weil "durch die häufige Verwendung im Fach eine "intensionale" und "extensionale" (gemeint ist wohl "intentionale" und"extentionale") Festlegung vorliege. Unter 2.2.2. räumt die Autorin jedoch ein, daß "Hedging " (in Wissenschaftstexten) doch eine "sprachliche Vorsichtsmaßnahme" sein könnte, "die den Gegensatz zu dem vorhandenen Wissen abschwächt".

Die Frage, wie die Wendung "eine Art ..." zu werten sei, zeigt, wie wichtig der jeweilige Kontext (nicht einzelne Lexeme) zur Feststellung einer möglichen Heckenfunktion ist. Die mit "eine Art" (Graefen 2.1.) aufgeführten "Negativ"-Beispiele werden der Metaphorik zugeordnet, da sie nicht in den Bereich der Prototypensemantik fallen. Näherliegend wäre es, "eine Art ..." durch "vergleichbar mit" zu ersetzen oder durch die Formulierung des Vergleichs, der sich durch einen expliziten Komparativ-Junktor von einer Metapher unerscheidet:

Das Regelsystem der Kommunikation funktioniert so wie eine Grammatik.

Bei dieser Gegenprobe erfüllt die Aussage alle Strukturelemente des expliziten Vergleichs: den Komparativ-Junktor WIE (4) und sein adverbiales Korrelat SO (3), die Vergleichsbasis FUNKTIONIERT (2), und das Vergleichs-Adjunkt REGELSYSTEM (1).

Eine Aussage mit Heckenfunktion ist weder der Sichtweise "Metapher" noch der des "Vergleichs" zuzumessen.

 

 

6.2. Die Einstellung des Schreibers zum Heckengebrauch

Selbst der Diskussionsbeitrag von Graefen - ein wissenschaftlicher Text - weist zahlreiche Heckenmarkierungen auf, auch die Wendung "EINE ART (sozialpsychologische Wendung)" (die metaphorisch zu interpretieren ist?). Heckenformulierungen sind auch in Wissenschaftstexten legitim (und z.B. im medizinischen Bereich nicht nur Selbstschutz). Oder auch so: wir können ohne diese sprachlichen Mittel gar nicht auskommen. Wer also wollte sie den Schreibern als "Schwäche" anlasten, ihnen eine "vorsichtige" Äußerung - auch hier wieder der Selbstschutz - verübeln?

Dem Wissenschaftler ist i.d.R. bewußt, daß er sich jederzeit irren oder täuschen und auch innerhalb seines Fachgebietes nicht "alles" wissen kann; gegebenenfalls verfügt er zum Zeitpunkt der Äußerung auch nur über vorläufiges (noch nicht abgesichertes) Wissen. Gibt er das nicht zu, setzt er sich nicht nur dem Verdacht der Unaufrichtigkeit aus, sondern ist auch unaufrichtig. Die Information unterliegt der Selektion durch den Schreiber/Sprecher und kann auf verschiedene Art mitgeteilt und so auch zu einer Quelle der Manipulation durch Sprache werden (Graefen 2.2.1: "die abschwächende Formulierung aus 'taktischen' Gründen"). Wenn er Information als geltend behauptet, impliziert der Schreiber/Sprecher auch eine Pression in Richtung auf ihre Annahme. Mit einer Affirmation wird ja nicht nur das Zutreffen eines Sachverhaltes behauptet, es gibt auch keine Möglichkeit, dieses Zutreffen in Frage zu stellen.

 

6.3. Vagheit

Daß Wissenschaftler in ihren Aussagen oft zwangsläufig vage bleiben - und dies sprachlich ausdrücken müssen - hat Graefen (2.2.1) zutreffend erkannt. Mit vorsätzlich vagen (zum Heckenkomplex zählenden) Ausdrücken wird z.B. Ungewißheit in bezug auf exakte Fakten oder Zahlen ausgedrückt. Schätzadverbien (unbestimmter <about, circa> und annähernder Schätzung <nearly, almost, practically>) signalisieren dabei dem Rezipienten, daß mögliche Erwartungen nach exakten Maß- oder Gewichtsangaben nicht erfüllt werden und er sich mit einem ungenauen Schätzwert begnügen muß. Neben auf intendierter vager Ausdrucksweise gründendem (noch)-Nicht(genau)-Wissen kann auch die fehlende Erfordernis nach weiterer Präzision, die Irrelevanz oder (noch)-Nicht-Verfügbarkeit exakterer Angaben, die in der gegebenen Situation nicht für angebracht erachtete detaillierte Information oder die nicht vorhandene Absolutheit (z.B. wissenschaftliche Information) geltend gemacht werden. Eine hier bestehende Heckenrelevanz wird allerdings nicht von allen Linguisten anerkannt, ein weiterer Hinweis darauf, daß das Thema durchaus kontrovers diskutiert wird, und daß man angesichts der unterschiedlichen Auslegungen und Ansichten durch intensive Befassung mit dem Thema zu einer eigenen logischen Ansicht kommen muß.

 

 

7. "Kommunikativ begründete Vorsicht" / Der Höflichkeitsaspekt

Das zuvor Gesagte trifft auch für den das Phänomen Hedging in besonderer Weise prägenden Aspekt der bereits angesprochenen Höflichkeit zu. Graefen (2.2.2.) stellt fest, daß "sprachliche Formen der Höflichkeit" aufgrund einer "vollzogenen Emanzipation" "aus heutigen wissenschaftlichen Texten verschwunden sind".

Die Höflichkeitsperspektive innerhalb der Heckentheorie ist tatsächlich eher den Anfängen der Hedging-Entwicklung zuzuordnen, was nicht heißt, daß die relevanten heckenfunktionalen Sprachmittel für einen (nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs) offensichtlich geringer gewordenen Bedarf an "höflichem Sprachverhalten" (siehe 6.1.) überflüssig geworden wären. Tatsächlich sind sie mehr oder weniger "strategieübergreifend" zu verwenden, denn ihre Wirksamkeit kann sich auch auf angrenzende Bereiche (Indirektheit, Vageit, Vorsicht, Unsicherheit) beziehen.

Der Höflichkeitsaspekt innerhalb des Heckenkomplexes wird in der Literatur nur nicht mehr so vordergründig behandelt wie in den "ersten Hedging-Jahren", als das Modell von Brown + Levinson in der Linguistik Hochkonjunktur hatte, mit dem vielzitierten "face threatening", das in der deutschen Übersetzung als "Gesichtsbedrohung" wahrscheinlich unangenehmer empfunden wurde, als es gemeint war. Die Arbeiten von Brown + Levinson (1978, 1987) waren Anregung und Ausgangspunkt für die Frage nach der Rolle des Hedging im Rahmen von Höflichkeitsstrategien. Zum Ausdruck von Höflichkeit steht dem Sprecher/Schreiber eine Vielzahl sprachlicher Mittel zur Verfügung, seien es Modalitäten, wie sie primär in den Modelverben - oft unter Mitwirkung abtönender Modalpartikeln - ihren Ausdruck finden, performative Verben, direkten Formulierungen oft vorzuziehende indirekte Wendungen, die MAN-Konstruktion, abschwächende lexikalische Mittel der Negation, Bedingungsgefüge und nicht zuletzt geltungseinschränkende (restriktive) Konjunktivformen. Diese Mittel werden eingesetzt, um Aussagen und Äußerungen aus Vorsicht, Diskretion, Diplomatie oder auch Unsicherheit abzuschwächen, beim Rezipienten - möglichst unter Wahrung des Sender- und Empfängerimages (face) - eine bessere Akzeptanz zu erreichen und das Widerspruchsrisiko zu vermindern. Der Effekt von Höflichkeit liegt primär in der Modifizierung einer sonst zu streng empfundenen Äußerung.

Brown + Levinson (1987), die Hecken zu den Realisierungsformen höflichen Sprachverhaltens zählen und diese - wie Lakoff - als abmildernde und intensivierende Elemente sehen, gehen in ihren unter pragmatischer Sicht erstellten Analysen davon aus, daß jeder Gesprächsteilnehmer um eigene Gesichtswahrung bemüht ist und nach Möglichkeit dem Gesprächspartner dessen Gesichtswahrung erhalten möchte.

 

 

8. Hecken im Text einer statistischen Abhandlung

Zu den Heckenmarkierungen aufweisenden Beispielsätzen (Graefen 2.2.2.) in einem wissenschaftlichen Text (!) - B 5 - wäre anzumerken, daß Linguisten, die sich mit dem Thema befassen, den aufgelisteten Wörtern und Wendungen (ohne "müssen", aber mit "es zeigt sich aber") im wesentlichen Heckenfunktion zuerkennen würden. Die Einschränkung "im wesentlichen" besagt, daß Zurechnung oder Auslassung davon abhängt, welche Unterscheidungs- und Einordnungskriterien (Taxonomie) der Analysierende zugrunde legt (Verweis auf die unterschiedlichen Sichtweisen und Kategorisierungen).

 

 

9. Heckenmarkierungen wirken vielfältig

Graefen sagt in ihrer Zusammenfassung: "Die mit der sozialpsychologischen Wendung zum Konsens geronnene Funktionsbeschreibung, daß ein Autor sich vor Kritik zu schützen sucht, tendiert zu einer eher oberflächlichen Generalisierung".

Diese Aussage ist nur schwer nachzuvollziehen, denn das Bestreben eines Verfassers, sich möglichst nicht einer Kritik des Textrezipienten auszusetzen, kann nur einer von vielen Gründen sein, die den Schreiber bewogen haben könnten, ein heckenfunktionales Sprachmittel einzusetzen. Die Hecke als interaktionales, der Diskursanalyse zuzuordnendes Sprachmittel mit pragmatisch-kommunikativer Funktion erlaubt dem Sprecher/Schreiber

- seine Aussagen zu subjektivieren

- seine Verantwortung für den Wahrheitsgehalt der Proposition zu relativieren

- den Grad seiner Gewißheit oder seines Zweifels über die Geltung einer Feststellung einzuschränken

- absolute Aussagen zu vermeiden

- Verantwortung für Äußerungsinhalte zu transferieren

- persönliche Einstellungen zu bekunden und Sachverhalte zu bewerten,

womit er sich Rückzugsmöglichkeiten verschafft, Unsicherheiten verbergen kann, das Risiko des Irrtums minimiert, einen potentiellen Einwand des Rezipienten antizipiert und das interpersonale Kommunikationsverhältnis optimiert. Die Verwendung von Hecken erfolgt im allgemeinen unter dem Aspekt der (auch konventionalisierte, einem etablierten Schreibstil zuzuordnende Formen einschließenden) Höflichkeit und signalisiert Distanz, Vorsicht und Diplomatie. Sie zielt so auf eine weitgehend konfliktfreie Kommunikation bei Gesichtswahrung möglichst beider Interaktanten und auf eine optimale Akzeptanz der gemachten Aussage durch den Adressaten. Eine Manipulation des Rezipienten ist nicht ausgeschlossen.

 

 

 

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