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Tabubegriff

"Während der Naturmensch glaubte, Dämonen zu erzürnen (...),
bedingen heute vorwiegend die Angst, Aufsehen, Peinlichkeit,
Scham und Verletzung zu erregen, (...) die Achtung der Gebote."

Christel Balle


Die Grundbedeutungen von 'Tabu'/'tabu' im heutigen Sprachgebrauch haben nur noch wenig mit dem ursprünglichen Konzept im Tonga zu tun. Zwar ist die o.g. völkerkundliche Bedeutung den meisten Sprachbenutzern bekannt, doch dominiert im öffentlichen Sprachgebrauch die pejorative Verwendung. Obwohl diese und der damit verbundene "Tabu-Vorwurf" für interkulturelle Kontaktsituationen durchaus von Bedeutung ist, soll im folgenden ein Tabubegriff entwickelt werden, der der zweiten - im Duden genannten - Grundbedeutung folgt und Tabus in modernen Gesellschaften als Teil des "sozialen Kodex einer Gemeinschaft" versteht, "der festschreibt, welche Handlungen und Verhaltensweisen nicht ausgeführt werden sollen" (Zöllner 1997, 25f.), und der festlegt, worüber nicht bzw. nur in einer bestimmten Art und Weise kommuniziert werden soll. Wir meinen also mit dem Begriff Tabu sowohl (negative) Konventionen des Handelns (das, was man nicht macht), Nicht-Themen (das, worüber man nicht spricht) sowie Themen, die einer besonderen sprachlichen Etikette bedürfen (das, worüber man nur in einer ganz bestimmten Weise spricht).

 Für die Analyse moderner Gesellschaften (mit eher profanen als religiös motivierten Tabus) eignet sich in besonderer Weise der Tabubegriff von Reimann (1989, 421), der unter 'Tabu' die "intensive Kennung" von Personen und Gegenständen versteht, "die Macht und Gefährdung signalisiert und ein entsprechend angepaßtes (vorsichtiges) Verhalten bei einer Begegnung" erfordert. Nach Reimann sind Tabus "gesellschaftliche 'Selbstverständlichkeiten' und erhalten so eine wichtige soziale Funktion der Verhaltensregulierung, der Etablierung von Grenzen, der Anerkennung von Autoritäten z.B. zur Sicherung von Eigentums-, Herrschaftsverhältnissen und bestimmter sozialer Ordnungen" (ebenda).

 Tabus dürfen nicht mit Verboten verwechselt werden. Ein Unterschied zwischen direkt verbotenen und tabuisierten Handlungen besteht darin, daß über Verbote durchaus gesprochen werden kann, sie z.B. nach einer rationalen Begründung hinterfragt werden können. Tabus aber stehen außerhalb jeder Diskussion, da sich die tabuisierte Handlung quasi von selbst verbietet. Bekannt ist dieses Phänomen bei Nahrungstabus und in der Sozialisation des Kleinkindes, dem schon sehr früh bestimmte Handlungen und Berührungen durch Äußerungen wie 'Das macht man nicht', 'Das gehört sich nicht' etc. untersagt werden. Tabus werden durch solche unartikulierten Imperative im Erziehungsprozeß so weit internalisiert, daß "gesetzliche Regelungen und formelle Sanktionen vielfach überflüssig" werden (Reimann 1989, 421).

 Anders als Tabus können (und müssen) Verbote formuliert werden; denn ein "Verbot erstreckt sich nicht gleichzeitig auf die Formulierung, sondern es verlangt eine Formulierung" - Tabus hingegen "verlangen, daß jeder weiß, was tabu ist, und insofern gibt es auch keinen Verbotsnormirrtum, d.h. nach Tabuverletzungen existieren keine Verteidigungsstrategien, wie bei manchen Verboten" (Kuhn 1987, 26). Tabuverletzungen werden auch nicht durch kodifizierte Strafen geahndet - vielmehr stellen sich Schuldgefühle, Abscheu und Scham von selbst ein: "der Täter wird isoliert, von der Gemeinschaft gemieden, tabuiert - modern auch: etikettiert" (Reimann 1989, 421).

 Tabus sind ein "besonders wirksames Mittel sozialer Kontrolle" (Reimann 1989, 421) und können als "Axiome der Kommunikation" verstanden werden, d.h. als nicht hinterfragbare Grundwahrheiten einer Gemeinschaft, die nicht berührt werden dürfen. Tabuisiert werden in modernen Gesellschaften einerseits bestimmte Personen, Örtlichkeiten und Nahrungsmittel sowie andererseits Bereiche wie Sexualität, Sucht, Armut, Ungleichheit, Korruption, Gewalt, Tod und bestimmte Erkrankungen (Reimann 1989, 421). Zu unterscheiden sind in begrifflicher Hinsicht 'Objekttabus' (tabuisierte Gegenstände, Institutionen und Personen) und 'Tattabus' (tabuisierte Handlungen), die durch 'Kommunikationstabus' (tabuisierte Themen), 'Worttabus' (tabuisierter Wortschatz) und 'Bildtabus' (tabuisierte Abbildungen) begleitet und abgesichert werden, die ihrerseits wiederum durch 'Gedankentabus' (tabuisierte Vorstellungen) und 'Emotionstabus' (tabuisierte Gefühle) gestützt werden.

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