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Alexander Scholz (Universität Frankfurt a. M.): Handout zum Vortrag "Tabu - Ein ethnophänomenologischer Deutungsansatz"

Sitzungen des Doktorandenkolloquiums im Wintersemester 1999/2000
5. November 1999

Gastvorlesung von Alexander Scholz (Universität Frankfurt a. M.)

 

"Tabu Ein ethnophänomenologischer Deutungsansatz"

Im Anschluß an Edmund Husserls Phänomenologie möchte ich zeigen, daß das Subjekt ein Ansatzpunkt in der Tabuforschung sein kann, um einerseits die erlebte Bedeutung des Tabu herauszukehren und andererseits das Tabu und seine Gegenstände in ihrem soziokulturell wirkmächtigen Zusammenhang transparent zu machen. Dieser Ansatz ermöglicht auch eine veränderte Sicht auf das Subjekt; er hebt es heraus aus der in Soziologie, Ethnologie, Kulturanthropologie, kurz, in allen "Verstehenden Wissenschaften", nur allzu häufig implizit oder explizit vertretenen, das Verhältnis von Individuum und Kultur versteinernden Auffassung, der Mensch sei, wenn nicht ein von der Welt gänzlich unberührtes, so doch ein sie lediglich klassifizierendes Subjekt.

 

Indem das Individuum nicht auf die Rolle des Respondenten reduziert, sondern ihm in seinen praktischen und bewußtseinsmäßigen Leistungen Aufmerksamkeit gezollt wird, kann dieses und das Tabu in den soziokulturellen und identitätskonstitutiven Dimensionen gleichermaßen heuristisch zur Geltung gebracht werden wie die Gesellschaft.

 

Über diesen Text hinaus könnten noch zwei weitere Aufgaben interessant sein:

 

Erstens: Zwar soll nun ein erster kategorialer und terminologischer Rahmen einer entsprechenden Tabu-Forschung gesteckt werden, indem Husserls Begrifflichkeit operationalisiert wird, ohne auf soziophänomenologische (etwa Luckmann, Thomas; Schütz, Alfred; Grathoff, Richard) Umorientierungen auszuweichen; doch die eigentliche Aufgabe bestünde darin, weitere und feinere kategoriale und terminologische Angebote Husserls für die Sozial- und Kulturwissenschaften fruchtbar zu machen.

 

Zweitens: Es gilt in wahrhaftig mühsamer Kleinstarbeit zu überprüfen, ob die kritischen Positionen zur Möglichkeit einer transzendentalphilosophisch orientierten Lebensweltwissenschaft nicht durch praktische Operationalisierungsversuche entkräftet werden können.

 

Es ist mittlerweile ein theoretischer Allgemeinplatz, daß Wissenschaft in Abhängigkeit von den sie umgebenden Determinanten ihre Ergebnisse und damit entsprechende Welt- und Menschenbilder hervorbringt, doch selten werden sie explizit genannt; darum nun einige Worte zu dem hier für die phänomenologische Tabu-Forschung konstitutiven Begriff des "personalen Ich". Andere phänomenologische Verständnisse des "Ich" würden wieder andere Kategorien fodern.

 

 

WAS IST MIT "PERSONALEM ICH" GEMEINT?

 

Es ist ein Ich, das aufgrund vergangener Stellungnahmen Motivations-zusammenhänge der Welt begreift und sich dabei selbst als identisches konstituiert und versteht; sehen, empfinden wir uns doch, obwohl sich eventuell unsere Lebenswelt und/oder unsere Position mit ihr ändert, als dieselbe Person. Wie sonst könnten wir von unserer Biographie sprechen. Wie das Subjekt zu Stellungnahmen gelangt, wie es begreift, erkennt, würde hier zu weit führen, könnte jedoch im Rahmen einer transzendentalphänomenologisch orientierten Feldforschung interessante Fragen und Ergebnisse generieren, ja dies wäre sogar eine ihrer eigentlichen Aufgaben.

 

Bei einer ethnophänomenologischen Feldforschung wäre davon auszugehen, daß der Mensch sowohl aufgrund seiner Orientierung in die nahe und ferne Zukunft als auch der bewußtseins- und handlungsmäßigen Bezogenheit auf die Onta der Lebenswelt kreativ handeln kann  sei dies nun, um Neues zu entwickeln oder zu verhindern .

 

Das Ich erhält sich, indem es sich vom Anderen unterscheidet, wobei dieser Prozeß auch einen der Einfühlung, der Identifikation umfaßt. Dieser bewußtseinsmäßige Vorgang  dem durch qualitative Interviews unter transzendentalphänomenologischer Perspektive noch nachzugehen wäre  ist die subjektive Seite der niemals völlig identischen Handlungsweisen verschiedener Menschen, bezogen auf die von Menschen geteilten Gegenstände.

 

In diesem Zusammenhang ist auch das Tabu zu analysieren.

 

 

DAS TABU

 

Das Tabu ist Teil kultureller Praxis und trägt den Handlungssinn: Verbot oder Meidung, ohne dabei nur das eine oder andere zu sein. Bezogen ist dieser Sinn von Handlung (dabei ist sowohl erkennendes als auch praktisches Handeln, wozu auch das Sprechen gehört, gemeint) auf materiell-räumliche Dinge (z.B. Nahrung, Kleidung), Beseeltes (Mitmenschen oder alles Andere, das als beseelt gilt), Handlung (Begrüßungen), die geistig-personale Welt (z.B. Institutionen, wie Kirche, Gott, Watanka, mana etc.). Nicht diese Gegenstände selbst sind verboten oder zu meiden, sondern nur bestimmte Handlungen, die auf sie bezogen sind, weil Handlung oder Gegenstand besondere Kräfte haben, die Gefahren bergen.

 

Ein häufig geäußertes Mißverständnis, daß die Gegenstände selbst verboten seien, basiert auf dem so geläufigen Satz, daß ein Platz, ein Gegenstand etc. tabu sei. Dabei beziehen sich diese Äußerungen zugleich auch immer auf den Gegenstand als besonders krafthaltigen, z.B. das mana. Welchen Sinn hätte jedoch ein krafthaltiger, heiliger Gegenstand, der verboten ist? Gäbe es ihn überhaupt? Das Verbot ist immer Verbot von etwas und zwar von Handlung. Im Verbot spezifiziert sich als spezieller kontextgebundener intentionaler Handlungssinn das allgemeine Korrelationsapriori, wonach jedem Bewußtseinsakt des Denkens und Fühlens ein gedachter und gefühlter Gegenstand entspricht. Das Tabu verweist auf Bewußtseinsakte des Fühlens, Denkens, die dann eben dazu führen, daß die Handlung als eine zu verbietende konzeptualisiert wird. Das Korrelationsverhältnis würde aufgelöst, wenn sich der Gegenstand zugleich durch die Eigenschaften 'krafthaltig' und 'verboten' auszeichnen würde und würde damit sinnlos werden, denn wo wäre dann noch das Ego zu finden, das doch erst seiner Lebenswelt Sinn verleiht  hier den Verbotssinn?

 

Das Tabu stellt also das Verhältnis zwischen Mensch und Kraft durch die Tabuisierung von Verhalten - bezogen auf den Gegenstand - erst her. Doch tabuisiertes Verhalten ist somit auch nicht Kennzeichen für die Gefährlichkeit ganzer Situationen, sondern nur für die Gefährlichkeit prinzipiell tabuisierten Handelns ; ansonsten würden die Situationen selbst weitestgehend vermieden, könnten also gar nicht gefährlich werden. Etwas kann nur gefährlich werden, wenn es in die Nähe gelangt.

 

Worin liegt nun der Unterschied zwischen Tabu und Verbot? Das Tabu berührt das Erleben von Existenz und damit von Identität einer Einzelperson, einer Elite, einer Gruppe, das Verbot nur deren Zustand. Umgekehrt sind Tabubrüche eine Ursache, "die Eintracht der Gruppe ernstlich ins Wanken zu bringen."

 

Beispielsweise werden im Falle von Dürre, Mißernten, Seuchen, Unfruchtbarkeit, Niederlagen im Krieg etc. dem Oberhaupt ein Tabubruch, andere Pflichtverletzungen oder beginnende Amtsunfähigkeit unterstellt, die zur Amtsenthebung führen. Zumal die Oberhäupter die "zentralen Ausdrucksgestalten ihrer [der Gruppe A.S.] Identität" bilden. Ein Bruch des Tabus würde bedeuten, daß eine bestimmte Handlung die Existenz, Identität und Vitalkräfte als solche bedrohen würde ; die Sanktion auf einen Tabubruch ist häufig der Tod als Äquivalent einer negativen Reziprozität. Eine Variante der Todesstrafe wäre der soziale Ausschluß als sozialer Tod - auch hierdurch hört die zu sanktionierende Person auf zu existieren bzw. wird selbst tabuisiert. Geld-, Zeit-, Körperstrafen stellen eine symbolische Reziprozität zwischen der Person, die gegen ein Verbot verstößt und der sanktionierenden Macht her, die Person verbleibt aber in der Endosphäre der Gesellschaft.

 

Für die Unterscheidung von Tabu und Verbot ist wichtig, daß die Bedrohung von Identität und Existenz unmittelbar erlebt oder antizipiert wird, selbst wenn der erwartete Effekt eines Tabubruchs beispielsweise erst für eine folgende Ernteperiode gilt. Diese Bedrohung entspricht eben nicht der Betrachtung nach dem Motto: "Wenn das jeder machen würde" .

 

 

TABU UND SYMBOL

 

Tabu sind auch Bedrohungen von Symbolen der Existenz und damit der Identität.

 

Diese Symbole stammen eben, wie es sich aus der Definition ergibt, aus den Bereichen des Materiell-Räumlichen, des Als-Beseelt-Geltenden, der Handlung und verdichten eine "Geschichte, die selbst nur symbolisch entfaltet werden kann." Außerdem hat es eine Verbindungsfunktion zwischen Mensch und Gruppe, Mensch und Mensch, Mensch und Geschichte, welche die sozialen Verbindungen integriert und konstruieren hilft. Ob dieser Funktionen, die die Identität von Individuen und Gruppen neben anderen Faktoren stützen, ist es tabu, diese Symbole zu verletzen.

 

Das Tabu berührt also auch Fragen der Identitätsideologien und ihre Relativität im Laufe der Geschichte, sei diese nun eine persönliche - wie die Biographie - oder die einer Gruppe.

 

EIN BEISPIEL

 

Die Heilige Pfeife bei den Lakota verkörpert die weibliche Kraft. Dies wird durch eine Übergabelegende begründet, die davon erzählt, daß eine Kulturheroin  die Kalbspfeifenfrau "Wohpe" - den Lakota die Pfeife brachte, sie in verschiedenen Pfeifenriten unterwies und in Essenstabus einweihte.

 

Eines dieser Tabus besagt nun, daß eine Frau während ihre Menstruation an keinem der Riten teilnehmen dürfe, weil ihre weibliche Kraft in dieser Zeit in einem Maße konzentriert sei, daß sie die Kraft der Pfeife und des Medizinmannes neutralisieren würde. Ihrerseits werde sie das Schicksal des Verblutens erleiden, da ihre Blutung nicht mehr aufhören würde.

 

Nicht die Pfeife ist also verboten, sondern eine darauf bezogene Handlung  das Dabeisein unter bestimmten bedeutungstragenden Bedingungen.

 

 

TABU IM DOPPELTEN HORIZONTVERHÄLTNIS

 

Es gilt also deutlich zwischen Handlung und intentional bezogenem Gegenstand zu unterscheiden bzw. beide in ihren Bedeutungsstrukturen theoretisch zu scheiden, aber in ihrer praktischen lebensweltlichen Bezogenheit aufeinander zu kontextieren.

 

In der Tabu-Handlung, also dem Beachten eines Handlungsverbotes, werden mehr Bedeutungen aktuell gesetzt als tatsächlich thematisch gegenwärtig sind, d.h. die Pfeife ist im Moment des Rituals beispielsweise nicht nur Mittel der Purifikation oder der Besiegelung von Versprechen, sondern auch von Bedeutung als die Gesundheit der Beteiligten und deren Kraft möglicherweise beeinflussendes "starkes Objekt". Konstituiert wird diese Handlung aus "Quellen der Habitualität", also dem Vorrat an Vorbekanntem, d.h. aus soziokulturellen Erfahrungen im weitesten Sinne, die sich in Einsichten (die Wirkmächtigkeit der Pfeife etwa) niederschlagen, die nicht in jeder Situation neu erzeugt werden müssen.

Hierfür spricht bereits, daß sich Tabus auf mögliche Abweichungen von der Tradition beziehen und sich insofern vor allem in Risikobereichen finden, denn diese sind, wie ich in "Zur Konzeptualisierung von Entscheidung und der Vermeidung von Risiko" gezeigt habe, Ausdruck eines in die Zukunft gerichteten Bewußtseins von Wandel mit teilweise existentieller Bedeutung.

 

Tabus dienen der Sicherung der soziokulturellen Protagonisten, seien es Individuen, eine Gruppe in einer Gesellschaft, Machthabende oder die Gesellschaft in ihrer Demonstration von Homogenität vor "Dünnstellen" oder gar offenen "Rissen", wodurch es "zu einem Wandel kommen könnte." Jedoch ist hierbei wichtig, daß dem Tabu als Institution offensichtlich eine unter Umständen nur vage Vorstellung von der entweder unbekannten oder bereits als einmal bedrohlich erlebten Rückseite der sozialen Protagonisten - dem Zustand der Unordnung und Bedrohung - zugrunde liegt, da sich diese vor dieser wandlungsbedingten Unordnung und Bedrohung schützen möchten. Denn auch hier gilt wieder: Der Schutz ist Schutz wovor? In diesem ,Wovor' liegt die Vorstellung von Unordnung und Auflösung, an diese zu gelangen eine überaus wichtige und reizvolle Forschungsaufgabe wäre. Dieses Moment des Schutzes vor Wandlung unter Berufung auf Tradition gilt jedoch, wie Klaus E. Müller ausführt, für zentrierte - ich würde sagen zentrierende Elemente - der Systeme. In ihnen trägt die Vergangenheit die Gegenwart, solange Norm und Tradition befolgt werden, woraus dann auch der Sinn im Leben und eine intakte Identität konstituiert wird. Ein weiterer Beleg für das Impliziertsein der unbekannten oder bereits einmal bedrohlich erlebten Seite am bezogenen Objekt ist auch die Unterscheidung in die Exo- und Endosphäre, also in die Bereiche der Ordnung, des Kosmos', der Zivilisation als das Bekannte und der Unordnung, des Chaos', des Wilden. Die Unordnung würde eindringen können oder auch von innen heraus durch Aberation entstehen, wenn die Endosphäre nicht unter anderen Sicherungsmaßnahmen auch von Tabus geschützt würde.

 

Die Drohung des Todes und der Gefahren für andere wird, um an das Beispiel der heiligen Pfeife anzuschließen, zu einem über die Gegenwart der Pfeife hinausgehenden Bedeutungsüberschuß. Die Handlung setzt hierbei den Gegenstand in dessen Bedeutung aktuell, indem sie sich an der Potentialität und Aktualität des Wahrnehmungsgegenstandes intentional pendelnd orientiert (den Tod fürchtend z.B.). Anders formuliert: Ego ist im Handeln auf das gerichtet, was im "Innenhorizont" des Gegenstandes liegt, d.h. was am Gegenstand selbst erlebt wird (Aktualität), z.B. die Wirkung des Gegenstandes oder auch das Erleben von Gemeinschaft, sofern dieses als direkt zur Pfeife beispielsweise gehörendes konzeptualisiert wird. Darüber hinaus ist Ego auf das im "Außenhorizont" Liegende gerichtet, d.h. das Erwartete, möglicherweise noch Erlebbare und dann Erinnerbare (Potentialität). Durch die Handlung setzt Ego den Gegenstand objektiv, "als der Subjektivität bleibend Geltendes", solange kein Wandel einsetzt, der das Tabu entweder als unsinnig oder unwirksam entlarvt. Diese Aussagen beziehen sich bei Husserl zwar auf die Wahrnehmung, aber an sie heften sich entsprechend horizonthaft habitualisierte Akte des aktuellen und möglichen Wertens, Fühlens, Theoretisierens. Der Gegenstand hat also eine bekannt-erlebte Seite (die durch das Verhalten gegebene und die ihrer erinnerten kulturellen Vorbekanntheit) und eine noch unerlebte aber mögliche, da sie nur erzählt oder erinnert wurde  es dürfte nur selten geschehen, daß Frauen wegen ihrer Menstruation verbluten und noch seltener, daß sie zuvor bei einem entsprechenden Ritual anwesend waren.

 

Die Horizonthaftigkeit gilt jedoch nicht nur für den Gegenstand, sondern

ebenso für die Handlung selbst und läßt so erst die Beziehung von Ego auf den Gegenstand in dessen Horizonthaftigkeit (Aktualität und Potentialität) möglich werden.

Die Handlung als das Tabu (also als Handlungssinn  Definition!) ist eine bereits bekannte Meidung und verweist auf das Unbekannte als die praktisch mögliche, aber untersagte oder vermiedene Handlung. Außerdem erfüllt, aktualisiert das Tabu den Innenhorizont von Handlung, weil die Handlung bereits bekannt ist und sie in einem soziokulturellen Gegenwartsfeld stattfindet und dieses aktuell erlebbar werden läßt. So erfüllt und aktualisiert der Innenhorizont der Handlung den Innenhorizont des Gegenstandes, weil dieser durch sie die Möglichkeit erhält oder behält, seine Kraft und Bedeutung zu entfalten, zu aktualisieren.

 

Die Horizonthaftigkeit von Handlung und Gegenstand erzeugt ein Spannungsfeld aus Aktualität und Potentialität, die vielleicht auch die hohe Konzentration erklärt, die bei bestimmten rituellen Tätigkeiten zu beobachten ist, damit sie ihren perfekten Gang nehmen.

 

 

 

TABU UND IMMANENTE VERZEITIGUNG

 

Die Bezogenheit auf die Horizonte der Tabu-Handlung und des bezogenen Gegenstandes läuft als immanenter (d.h. im Bewußtseinsstrom mit allen seinen intentionalen Bezogenheiten liegender) Prozeß der Verzeitigung ab. Ego konzeptualisiert, intendiert, indem Handlung und Gegenstand in einem unmittelbaren Gegenwartsfeld selbst nur als kontinuierlich eben-erinnerte (retendierte) und eben-vorweggenommene (protendierte) Gegenstände und als Erinnerungsgegenstände einer weiter zurückliegenden Erinnerung und einer weiter in die Zukunft reichenden Antizipation bewußtgehabt werden, "Tabus schließen bereits die Zukunft mit ein". Zur Verdeutlichung: Die Pfeife wird in einem heiligen Bündel aufbewahrt, zerlegt in dessen Bestandteile Pfeifenkopf und Stiel und liegt beim Zeremonienmeister  dies wird unmittelbar von den Beteiligten gesehen. In dieses unmittelbare Sehen fällt aber auch noch, daß der Beteiligte gesehen hat, wie sie auf den Boden gelegt wird, sich der Zeremonienmeister setzt etc. Das Jetzt hört also nicht bei einer beliebig kurz zu veranschlagenden Dauer, z.B. einer oder drei Sekunden auf, wie es uns Neurophysiologen versichern, sondern wenn sich die intentionale Bezogenheit auf den Gegenstand in ihrem zusammenhängenden Vollzug ändern muß, damit es überhaupt ein Bewußtsein von diesem Gegenstand geben kann ; beispielsweise, wenn zwei Tage nach dem Sonnentanz davon erzählt wird, daß unglücklicherweise die Pfeife auf den Boden gefallen sei und deshalb ein bestimmter Abschnitt des Ablaufs wiederholt werden mußte, so ist der Gegenstand nun noch als Erinnerter gegenwärtig und Erinnerung ist notwendig, um ihn bewußt zu haben, wobei sich dann noch eine bestimmte Gemütslage einstellt, die mehr oder weniger von der des Momentes und der Gegenwart der Pfeife im Fallen abweicht.

 

 

 

TABU UND INTERSUBJEKTIVITÄT

 

In dem Akt des Tabus liegt eine Gemeinsamkeit zwischen den es Beachtenden und die Möglichkeit, das Selbst bzw. das personale Ich darzustellen als ein Ich, das als Dazugehörendes und eines, das die Regeln befolgt, existiert.

 

Doch nicht nur die Tabus für Gruppen stellen Möglichkeiten der Darstellung des personalen Ichs dar, sondern auch individuelle Tabus, so beispielsweise wenn ein Mitglied der Umedas (eine akephale Gruppe im West Sepik Distrikt von Papua Neuguinea) den Verzehr einer bestimmten Sago-Variante im Andenken an eine verstorbene Frau tabuisiert oder tabuisiert, auf einen Baum zu klettern, von dem dieses Ich gestürzt war. Nicht ohne Grund spricht Alfred Gell deshalb vom Tabu als Emblem des Selbst und als Segment intersubjektiver Realität, mit dem Effekt, in der öffentlichen Sphäre Beziehungen zwischen dem Selbst und der außerhalb dessen liegenden Realität durch Akte zu vermitteln. Das Tabu umreißt Züge von Persönlichkeit, die von einer Gesellschaft für wichtig gehalten werden oder die für das Individuum in seiner Selbstverortung in der Gesellschaft bedeutungstragend sind.

 

Eine entsprechende Forschung könnte nun noch die Frage beantworten, inwiefern das Tabu ein intersubjektiv waltender subjektiver Sinn in der Lebenswelt ist und auf eine die Vergangenheit integrierende Subjektivität in der Gemeinschaft möglicher Verständigung zurückgeht.

 

Jedoch kann auch ein Tabubruch als Emblem des Selbst dienen. So ist es beispielsweise in ländlichen Regionen Südostasiens erlaubt, haushaltsspezifische Tabus zu brechen, wenn die Familie in ihrer Kohäsion, beispielsweise durch die Besessenheit eines Mitglieds, bereits bedroht ist. So referiert Pfleiderer Obeyeskeres Beobachtungen einer Familie im Westen Sri Lankas. Alice Nona sei, so bestätigte sie selbst, besessen von dem Geist ihres Schwiegervaters, der Palmwein und Schweinefleisch fordere, d.h. zwei Produkte, die im Haushalt zu haben tabu gewesen sei. In dieser Situation sei im Falle des Palmweins nachgegeben worden. Außerdem sei in dieser Situation auch mit der dort gebotenen Vermeidung der Aggression gebrochen worden, indem der in ihr steckende Geist eine Reihe von An-schuldigungen gegen den Ehemann ausgesprochen hätte. Alle diese geforderten Tabubrüche bzw. die Äußerungen des Geistes hätten im Gespräch mit einem buddhistischen Mönch stattgefunden. Es darf hierbei nicht vergessen werden, daß im Buddhismus die Frau unter dem Mann steht und z.B. erst als Mann wiedergeboren werden muß, um ins Nirvana eintreten zu können! Hier also diente der Tabubruch der Darstellung Alice Nonas Selbst im familiären Kontext, wurde zu ihrem akzeptierten Emblem, wenngleich in der Form eines Besessenheitszustandes und der Stimme eines anderen Mannes.

 

 

 

 

BEISPIELHAFTE SKIZZEN

 

Im Folgenden möchte ich versuchen, die hier nun umrissenen möglichen Dimensionen einer ethnophänomenologischen Tabuforschung an Beispielen zu exemplifizieren bzw. darauf hinweisen, welche Aspekte noch beleuchtet werden müßten, damit nach meiner Definition von Tabu überhaupt von einem solchen gesprochen werden könnte.

 

Das Tabu findet sich als Thema in allen Bereichen der Ethnologie, nicht nur in den hinlänglich bekannten wie der Religionsethnologie. Erwähnt seien hier nur die Religionsethnologie und Ethnopsychoanalyse im Anschluß an Freuds "Totem und Tabu" (1922) oder die Verwandtschaftsethnologie, z.B. bei Levy-Strauss, der die Beziehung zwischen Bruder und Schwester als eine durch das Tabu äußerst streng beherrschte charakterisierte und mit Hilfe dessen die Betrachtung der Struktur des Avunkulats um die Bruder-Schwester-Beziehung erweitern wollte, da sie von Radcliff-Brown auf die Zweierbeziehungen Vater-Sohn, Onkel-Neffe reduziert wurde.

 

Interessant wäre es also nun, die existentielle und identitäts(ideo)logische Bedeutung der Schwester-Bruder-Beziehung konstitutionsanalytisch zu beleuchten, d.h. nachzuvollziehen, wie Respondenten aufgrund theoretischer Akte, Gemütsakte, etwa wollen, lieben, hassen etc. die Beziehung bewußt haben. Wie es aufgrund eines im Individuum abgelagerten Fundus kulturell vermittelter Erkenntnisse, Ansichten, Haltungen, Handlungen zu diesem Bewußtsein von der Schwester-Bruder-Beziehung kommt und soziokulturelle Transformationsprozesse die Korrelation von Akt und Bewußtseinsgegenstand (Schwester-Bruder-Beziehung) verändern.

 

Auch in der Kulturökologie begegnet uns das Tabu. So sieht Odum im Tabu der Rodung von Waldstücken, die die Reisterrassen Balis durchsetzen, einen Hinweis darauf, daß die Wald-Reismischung ein nicht durch die Orientierung an Produktionssteigerung zu zerstörendes Gleichgewicht darstelle.

 

Ob dies nun der tatsächlich gewußte Grund ist und wie das Tabu in seiner existentiellen Bedeutung, die im Falle des Erhaltes der eigenen Nahrungsgrundlage offensichtlich ist, konzeptualisiert wird, d.h. wie Wald, Reis und Handlung (Reisanbau, das Fällen von Bäumen) in doppelter Horizonthaftigkeit erlebt werden und auf die biographisch habitualisierte Genese erlebter Bedeutung (Konstitutionsanalyse) zurückgeht, könnte noch erforscht werden.

 

In der Ethnomedizin findet das Tabu beispielsweise Platz bei der Beschreibung von Geburts- und Nachgeburtspraktiken, etwa in West-Afrika bei der "Aufzucht von Neugeborenen mit Lage-Anomalien, von Zwillingen oder auch von Säuglingen, deren Mutter unter der Geburt starb."

 

Ebenso wie bereits oben am Beispiel der Besessenheit gezeigt, spielt der Tabubruch unter bestimmten Voraussetzungen eine wichtige Rolle für das Verständnis von gelebter und bewußtgehabter Intersubjektivität.

Bei den Nkoya ist es werdenden Eltern verboten auf Trauerfeiern zu erscheinen, es sei denn, sie nehmen eine Kräutermedizin ein. Es ist offensichtlich, daß Leben - zumal werdendes und deshalb auch leichter bedrohtes - und Tod als miteinander unvereinbar konzeptualisiert werden, doch sollte sich damit die Erklärung begnügen? Würde dadurch nicht einmal mehr dem eurozentrischen Überlegenheitsdenken, die Maßstäbe für rationales Handeln zu haben, Wort geredet werden, denn was haben denn werdende Eltern mit dem toten Körper eines Dritten zu schaffen? Wenn nun versucht würde, zu verstehen, inwiefern sich die Eltern zu dem werdenden Kind und zu der toten Person emotional und kognitiv und aufgrund ihrer habitualisierten Intentionalitäten positionieren, käme man an die Grenzen, an denen es keinen Sinn hat, von der Irrationalität des Tabu zu sprechen: Trauer, Angst, dem Bewußtsein von Handlung, daß es Effekte erzielt. Selbst wenn diese Gefühle auf uns einen stark konventionalisierten Eindruck machen oder scheinbar versteckt sind, so bleiben sie doch Manifestationen und Motivationen der Intersubjektivität und Handlung.

 

Eine ethnophänomenologische Untersuchung könnte nun nicht nur in die Lokalisierung von Tabus und die Mittel und Ideologien sie aufrechtzuerhalten Einsicht bringen, sondern auch in ihre sozial wirkmächtige Seite des alltäglichen Lebensvollzugs. Die idealtypische Konstruktion von Funktionsideologien, wie noch von Franz Steiner verfolgt, könnte überwunden werden. Ersetzt würde sie durch verstehende Erklärungen von Bezogenheiten verschiedener sozialer Protagonisten aufeinander und deren Konzeptualisierung ihrer eigenen Stellung in der Gesellschaft in bezug auf und durch das Tabu.

 

Der phänomenologische und der transzendentalphänomenologische Ansatz könnte vermeiden helfen, daß das Tabu als etwas rundweg Irrationales qualifiziert wird, da er auf die erlebte und hervorgebrachte Bedeutung des Tabu eingehen kann; Bedeutung, die durch Handlung im Gegenwartsfeld sowohl konstituiert als auch gesichert wird und über die Begründung durch Respondenten hinaus auf weitere kulturelle, intersubjektive Motive im Außenhorizont verweist.

 

Erst wenn die Repräsentation des Anderen an diesem Punkt angelangt ist, kann es Forscher und Leser möglich sein, das Maß an Differenz zwischen sich und dem Anderen nachzuvollziehen, indem dieser verstanden wird ; d.h. es wird ausgegangen von der minimalen Gemeinsamkeit des gleichen bewußtgehabten Gegenstandes, z.B. Elternschaft und Todesfall, der in der Konstitution aufgrund synthetischer Akte erkannt wird, aber aufgrund mehr oder minder unterschiedlicher Horizonte, auf mehr oder minder unterschiedliche Konstitutionen verweist.

 

Der Unterschied zu den hermeneutischen Methoden besteht im Nachvollzug der Konstitution. Während hermeneutisches Verstehen beim Vergleich des Vermeinens von Gegenständen, z.B. der Elternschaft und des Todesfalls bleibt, fragt der transzendentalphänomenologische Ansatz nach den Leistungen der Subjektivität, die erst dieses Vermeinen ermöglichen und sowohl Subjekt als auch das Vermeinte (Elternschaft und Todesfall) in der Lebenswelt verorten.

 

Während die Hermeneutik - beispielsweise bei Riedel - sich von den induktiven und deduktiven Verfahrensweisen distanziert, da sie annimmt, diese seien nicht auf Erkenntnisgegenstände gerichtet, die "als 'Leben selbst' vorgegeben" seien , so wird in der Phänomenologie die Induktion und Deduktion selbst als Teil dieser Leistungen der Subjektivität erachtet, welche, unter anderen Leistungen, der Lebenswelt Sinn verleihen.

 

Dieser Aufriß kann keine festen Ergebnisse einer Forschung liefern, sondern lediglich Perspektiven für Forschungen öffnen, ganz gleich ob es nun Menschen, Gruppen, Kulturen vor der eigenen Haustüre sind, die das Forschungsinteresse wecken oder ob es Menschen, Gruppen, Kulturen sind, bei denen die Forschenden vor den Eingängen derer Domizile stehen - oder stehen die Forschenden etwa ohnehin immer vor der eigenen Haustüre und vor den Eingängen der anderen?

 

Sei's drum, dieser Ansatz soll ein weiterer Versuch sein, Zugang zum Tabu im Kontext einer Kultur zu finden, die stets ein sich änderndes Resultat lebensweltlicher Praxis in der Gemeinschaft möglicher Verständigung ist.