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Sommersemester 2003

 

Chołuj/Dornhof: Gender als wissenschaftliche Tatsache. Wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven nach Ludwik Fleck

"Die wissenschaftliche Wahrheit wird sich von etwas Starrem und Stillstehendem in eine dynamische, entwickelnde, kreative menschliche Wahrheit wandeln", schreibt im Jahre 1960 der polnische Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck (1896-1961), der eine Theorie über Denkkollektiv und Denkstil in seinem Grundwerk "Entstehung und Entwicklung der wissenschaftlichen Tatsache" bereits 1935 formuliert hat. Eine wissenschaftliche Tatsache sei ein Ergebnis der wirkenden Denkkollektive und des aktuellen Denkstills - und damit nicht ein gegebenes Objekt, welches vorliegt und auf den wissenschaftlichen Zugriff wartet. Es ist eine Konstruktion diskursiver und performativer Praktiken, um die sich nach ihrer Benennung sowohl finanzielle Mittel und auch menschliche Ressourcen zu organisieren beginnt. Ludwik Fleck gibt uns Kategorien an die Hand, mit denen wir auch die Entstehung von neueren wissenschaftlichen Tatsachen erkunden können. Das Ziel des Seminars ist, seine Denk- und Zugangsweise an der Geschichte von "gender" als einer wissenschaftlichen Tatsache auszuprobieren, die heutzutage sogar offizielle politische Bedeutung erlangt hat, z.B. in den Richtlinien der Europäischen Union. An der feministischen Wissenschaftsgeschichte können wir den selbstreflexiven Charakter der Theoriebildung und damit den Übergang von Weiblichkeitskonzepten zu der wissenschaftlichen Tatsache "gender" erkennen.

 

Chołuj: Die Geschichte des Marienkultes in Polen

Der Marienkult spielt in Polen eine so wichtige Rolle, daß man die These wagen kann, er ist die Eigenheit der polnischen Kultur. Seine Spuren lassen sich in ganz unterschiedlichen Bereichen und Praktiken beobachten: Sie reichen von der religiösen Ekstase vor dem Bild der Schwarzen Madonna in Tschenstochau bis zur Kontroverse um Radio Maryja, von der Krönung der Heiligen Maria durch den König Johann III. Sobieski im Jahre 1682 bis zur Abtreibungsdebatte in den 90er Jahren. Im Seminar verfolgen wir seine Geschichte anhand historischer Ereignisse, religiöser und literarischer Texte, der Geschichte einiger Pilgerorte und von Alltagspraktiken. Wir werden seine Funktion im sittlichen und im politischen Bereich erforschen.

 

Räther: Das Weimarer Dreieck. Entwicklung, Akteure und Neuralgien eines ambitionierten Projekts

Dreiecksbeziehungen sind meistens etwas heikel. Dennoch deklarierten die Außenminister Polens, Deutschlands und Frankreichs im Jahre 1991 in Weimar eine verstärkte trilaterale Zusammenarbeit ihrer Länder - fortan als Weimarer Dreieck bekannt - mit dem Ziel, den Kalten Krieg nach dem Fall der Mauer auch strukturell zu überwinden und den größten der ostmitteleuropäischen Staaten in privilegierter Position in den europäischen Integrationsprozess einzubeziehen. Für alle drei Länder galt es, ihre eigenen europapolitischen Interessen neu zu definieren, gemeinsame Interessen zu identifizieren und diese möglichst effizient umzusetzen. Seither ist einerseits ein dichtes Konsultationsnetz auf Regierungsebene etabliert worden, andererseits jedoch blieben konkrete Projekte dieser Zusammenarbeit immer wieder auf der deklaratorischen Ebenen stecken. Im Seminar wollen wir der Frage nachgehen, welche Ergebnisse diese Zusammenarbeit nach zwölf Jahren erzielt hat, welche Grundprobleme und Schwierigkeiten es gibt und welche Perspektiven dieses Weimarer Dreieck nach dem Beitritt Polens zur Europäische Union hat. In der ersten Phase des Seminars werden wir uns mit den bilateralen Beziehungen der drei Staaten zueinander beschäftigen, um die historischen Hypotheken für die heutige Zusammenarbeit abschätzen zu können. In der zweiten Phase wird es um die Rolle dieser Dreierbeziehung im europäischen Integrationsgefüge gehen, in welchem es eigentlich keine Sonderbeziehungen geben sollte. Schließlich werden konkrete deutsch-polnisch-französische Projekte vorgestellt und analysiert.