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Wintersemester 2002/03

 

Chołuj: Antisemitismus ohne Juden in Nachkriegspolen

Seit der Veröffentlichung des Buches "Nachbarn" von Tomasz Gross wird in Polen auf unterschiedlichen Ebenen über den Antisemitismus diskutiert. Bis zur Jedwabne-Debatte, welche dieses Buch ausgelöst hat, berührte man dieses Problem nur gelegentlich, meistens im Zusammenhang der Hilfe, die die Polen den Juden im Zweiten Weltkrieg leisteten. Das Thema des Antisemitismus wurde mehr oder weniger geschickt umgangen und verschwiegen. Das Verschwiegene verschwindet nicht, es bleibt in einem besonderen Gedächtnisspeicher, aus dem es immer wieder geholt werden kann. Da heute in Polen nur sehr wenige Juden leben, haben wir im Grunde genommen mit einem besonderen Phänomen zu tun: dem Antisemitismus ohne Juden. Im Seminar werden wir verfolgen, wie dieses Phänomen sich in der legalen und illegalen Erinnerung verfestigte, wie es weitertradiert und zu welchen Zwecken ausgenutzt wird. Uns werden in erster Linie nicht die Ursprünge des Antisemitismus in Polen interessieren, sondern seine Funktionen in der Nachkriegszeit. Das Kielce-Pogrom 1946, das Jahr 1968, die Alltagskultur und Literatur werden wir analysieren, um diese Funktionen zu ergründen. Den Ausgangspunkt bildet die Lektüre der von Ruth Henning herausgegebenen Textsammlung der wichtigsten Diskussionsbeiträge zu Jedwabne.

 

Chołuj/Dornhof: "Die einzige Frau, die ganz das Wort verkörpert". Prostitution und die symbolische Differenz der Geschlechter

Erst im 19. Jahrhundert wird das Thema der Prostitution wissenschaftlich erarbeitet, politisiert und popularisiert. Die Texte geben Auskunft darüber, wie Sexualität und Geschlecht nach kulturspezifischen Mustern konstruiert und über die Praxis in die Subjekte eingeschrieben werden. Wir wollen uns aus interdiziplinärer Perspektive den "Einschreibungen" als Ergebnis historischer Entwicklungen nähern und der Frage nachgehen, wie die Rede über Prostitution dem Geschlecht Bedeutungen verleiht. Als "einzige Frau, die ganz das Wort verkörpert" hat Alfred Jarry in seinem 1901 veröffentlichten Roman "Messaline" die Figur der Prostituierten beschrieben und damit auf den subversiven Status der Bezeichnungsproduktion verwiesen. Über die Prostitution als Instanz einer kulturellen Markierung institutionalisiert sich die Definitionsmacht der Behörden, der Medizin und der Polizei und geht in Phantasien über das Andere, Fremde und Exotische in kulturkritische, literarische und sexualwissenschaftliche Texte ein. Unter dem Aspekt des Bruchs mit bürgerlichen Normen und als Quelle devianter Sexualität wird die Prostitution bis heute stigmatisiert und ausgegrenzt, so dass wir uns neben der Lektüre literarischer und wissenschaftlicher Texte vor allem im deutsch-polnischen Vergleich auch mit aktuellen Gesetzen zur Legalisierung der Prostitution in Deutschland sowie mit der Arbeit von Frauenorganisationen in den Grenzregionen beschäftigen wollen.