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Forschungskolloquium WiSe 18/19

Forschungskolloquium: Diaspora, Exil, Migration – Methodische und theoretische Neuansätze XI

Das deutschsprachige Exil, dessen Erforschung mittlerweile auf eine langjährige Geschichte zurückblicken kann, gerät in den letzten Jahren vor allem aus einer interdisziplinären Pers­pektive (kultur-)wissenschaftlicher Theorien über Erinnerungskulturen, kulturelle Identitäten sowie Migrations- und Transferbeziehungen in regionalen, nationalen und transnatio­nalen Räumen (Migrationsbewegungen eingeschlossen) erneut ins Blickfeld wissenschaftlichen In­teresses. Aktuelle wissenschaftliche Beiträge formulieren neue Fragen an die Quellen, – im Kontext interkultureller oder interreligiöser Dialoge, der Darstellungen zu jüdischer Kultur und Geschichte, zur Genderforschung, oder zur Kultur, Geschichte, Kunst und Lite­ratur der Nachkriegszeit. Das Kolloquium thematisiert diese unterschiedlichen Ansätze vor dem Hintergrund entstehender MA-Arbeiten und Dissertationen und diskutiert neuere Forschungsliteratur. Es präsentiert Vorträge und Diskussionen mit internationalen Gastwissenschaftlern. 

Die Referentinnen und Referenten stellen dazu ggf. Text­ma­te­rial zur Ver­fü­gung, das der Ein­stim­mung und Vor­be­rei­tung dient. Es kann im Moodleverzeichnis unter dieser Veranstaltung eingesehen werden. Möchten Sie sich für das Kolloquium anmelden, so erfragen Sie das Moodle-Kennwort bitte bei Kathrin Stopp (stopp@europa-uni.de). 

16. Oktober 2018

16:15–17:45 Uhr

Stephan-Saal,

Postgebäude, EUV

Anja Jungfer (Potsdam), Doris Maja Krüger (Frankfurt/Oder und Berlin), Jakob Stürmann (Berlin und Frankfurt/Oder)

„Judentum und Arbeiterbewegung. Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“

Buchvorstellung


cover_judentum_arbeiterbewegung-1 ©de gruyter verlag

Bedingt durch eine spezifische politische, historische und ökonomische Konstellation verflocht sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung mit der von Jüdinnen und Juden. Zwar stellten arbeiterbewegte Juden innerhalb der Judenheit stets eine Minderheit dar, in der Arbeiterbewegung waren sie jedoch überproportional vertreten – mitunter begründeten sie sogar eigene, explizit jüdische Arbeiterbewegungsstrukturen. Der gemeinsame Kampf um Emanzipation und gesellschaftliche Teilhabe versprach die Bedeutung von Herkunft zu nivellieren. Jedoch war auch die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung vor Antisemitismus nicht gefeit und Juden wurden wiederholt durch antisemitische Anfeindungen ihrer nichtjüdischen Genossen auf ihre jüdische Zugehörigkeit zurückgeworfen. Gleichwohl fanden sie unter diesen auch Bündnispartner im Kampf gegen Antisemitismus.
Der vorgestellte Sammelband vereint Beiträge, die sich dem Verhältnis von Judentum und Arbeiterbewegung aus verschiedenen Perspektiven annehmen. 

Ab 18 Uhr Umtrunk zum Semesteranfang in den Lehrstuhlräumen

30. Oktober 2018

16:15–17:45 Uhr

Stephan-Saal,

Postgebäude, EUV

Prof. Dr. Aleksandr Belobratow (Sankt Petersburg)

„Deutschsprachige Russlandreisende um 1926: Zu literarischen Konstrukten der fremden Welt“

Vortrag und Diskussion 


Belobratow ©Belobratow

Die Russlandreisen der deutschsprachigen Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler, Unternehmer um 1926, also in der Zeit, wo das Land im fremden Norden bzw. im nicht minder fremden Osten durch die ungeheuere politische Umwälzung ihre Fremdheit unendlich potenzierte, sind in hunderten Reiseberichten dokumentiert. Es werden aufgrund der Publikationen von Armin Wegner, Alfons Paquet, Joseph Roth, Emil Julius Gumbel u.e.a. einzelne Phänomene der Erfahrung des Fremden analysiert. Die Zeit um 1926 ist dabei für die Analyse der deutschsprachigen Reiseliteratur aus zwei Gründen gewählt: Erstens ist es die Zeit, wo die Anzahl der Russlandreisenden enorm gestiegen ist, sodass z.B. im gleichen Jahr (1926) in Moskau Egon Erwin Kisch, Ernst Toller, Walter Benjamin, Joseph Roth u.e.a. verweilten. Die “dichte Beschreibung” und die vergleichende Analyse der russischen Reiseerfahrungen fusst sich somit auf die Dichte entsprechender Reisetexte. Andererseits geht es um die Zeit, wo das politische und soziokulturelle Leben des Landes “zwischen Begeisterung und Zweifel” (Stefan Zweig) schwankte: Es herrschte sowohl die Hoffnung auf das Reich der Gerechtigkeit, auf den “neuen Menschen” als auch die Angst vor der Welt der totalen Unfreiheit, der totalitären Kollektivierung.

20. November 2018

16:15–17:45 Uhr

Stephan-Saal,

Postgebäude, EUV

Dr. Katja Garloff (Portland)

„Literarische Strategien der Entortung und Verortung bei Vladimir Vertlib“

Vortrag und Diskussion


Katja Garloff Photo 2 ©Garloff 

In diesem Vortrag stelle ich ein Kapitel meines Buchprojektes zur deutsch-jüdischen Literatur der Gegenwart vor. Vladimir Vertlib ist paradigmatisch für eine neue Generation deutsch-jüdischer Autor*innen, die aus osteuropäischen Ländern nach Deutschland oder Österreich eingewandert sind und deren meist autobiografisch inspirierte Erstlingswerke hinterfragen und neu definieren – so meine These – was es bedeutet, irgendwo “anzukommen.” Im Vortrag analysiere ich zunächst die Spannung zwischen Entortung und Verortung in Vertliebs Abschiebung (1995) und Zwischenstationen (1999), insbesondere im Hinblick auf das von der Literaturwissenschaftlerin Barbara Mann entwickelte Konzept des “diasporic place-making.” Anschließend erörtere ich die Frage, inwiefern die Schaffung eines imaginären literarischen Ortes (“Gingricht”) in Vertlibs 2001 begonnener Romantrilologie eine neue Strategie der – geografischen, gesellschaftlichen und identitätsbezogenen – Verortung darstellt.

27. November 2019

16:15–17:45 Uhr

Stephan-Saal,

Postgebäude, EUV

PD Dr. Stefan Vogt (Frankfurt/Main)

„Zionismus und ethischer Sozialismus in der Weimarer Republik“

Vortrag und Diskussion

P8160003 ©Vogt

Der deutsche Zionismus, der sozialhistorisch klar als ein bürgerliches Phänomen gelten muss, umfasste seit der Weimarer Republik auch bedeutende sozialistische Tendenzen. Im Unterschied zu anderen Sektionen der zionistischen Bewegung dominierten in Deutschland jedoch nicht marxistische, sondern ethische Sozialismuskonzepte. Dies war nicht zuletzt die Konsequenz der Beteiligung der Zionisten an den deutschen Debatten über Nation und Nationalismus. Zu selben Zeit, als die deutschen Zionisten den Sozialismus entdeckten, wandte sich auch eine beträchtliche Zahl deutscher Sozialdemokraten einem ethischen Sozialismusverständnis zu. Ethische Sozialisten bemühten sich nicht nur um eine Integration nationalistischer Vorstellungen in den Sozialismus, sondern kooperierten auch mit deutschen Zionisten. Der Vortrag rekonstruiert die Rezeption des ethischen Sozialismus im deutschen Zionismus und diskutiert dessen Einfluss auf die zionistische Ideologie und Politik.

18. Dezember 2018

16:15–17:45 Uhr

Stephan-Saal,
Postgebäude, EUV

Prof. Dr. Mark Gelber (Beer Sheva)

„Die Stefan Zweig Renaissance – jüdische Aspekte“

Vortrag und Diskussion


Mark_Gelber-015 ©Mark Gelber

Mehrere informierte Beobachter haben erklärt, dass in den letzten Jahren eine globale Stefan Zweig Renaissance begonnen hat. Der Begriff "Renaissance" wird in diesem Zusammenhang so verstanden, dass – nach einer Phase der Marginalisierung und Vernachlässigung – nun international wieder eine ganze Reihe von auf Stefan Zweig bezogene literarische und kulturelle Aktivitäten auffallen. Während Stefan Zweig zu seinen Lebzeiten als einer der größten deutschsprachigen Literaten des 20. Jahrhunderts gefeiert wurde – insbesondere zwischen den beiden Weltkriegen als einige seiner Schriften in bis 50 Sprachen übersetzt wurden – sanken seine Popularität und sein Ruf drastisch im deutsch- und englischsprachigen Raum nach seinem Selbstmord 1942. Die Zweig-Renaissance wird nun bestätigt durch: neue Übersetzungen seiner Schriften, neue kritische Studien, eine Reihe internationaler Konferenzen über ihn und seine Arbeit (u.a. London, Peking, Berkeley, Sao Paulo, etc.), neue (dokumentarische und fiktive) Filme über ihn bzw. auf seinem Leben basierend, regelmäßige Veröffentlichungen aus dem Stefan-Zweig-Zentrum in Salzburg (Österreich), eine Neuauflage seiner Schriften sowie diverse Zweig-Aktivitäten initiiert vom Zweig Forschungszentrum in SUNY-Fredonia (New York) und der Casa Zweig in Petropolis, Brasilien.
Dieser Vortrag versucht, die möglichen Gründe für eine Zweig Renaissance zu erklären und die Möglichkeit zu diskutieren, ob die neue Auseinandersetzung mit seiner Person und seinen Werken sowie neue Forschungsfragen das bereits vorhandene Image ersetzen/verändern wird. Der Vortrag widmet sich auch der Frage, ob verschiedene Aspekte seiner Karriere das Potenzial haben, die laufende Diskussion über ihn in der Gegenwart und in Zukunft zu dominieren. In der Vergangenheit wurde Zweig wegen seines Humanismus, Kosmopolitismus, Pazifismus, seiner psychologischen Einsichten und seines Enthusiasmus für Sigmund Freud, seiner unpolitischen Haltung, seiner Arbeit als Vermittler zwischen den Kulturen, seiner Stellung als großer Europäer, letztlich auch als Exilant, der das nationalsozialistische Europa und ein isoliertes England verließ, um sein Leben als selbsternannter Wanderer in den Amerikas zu beenden, gelobt und kritisiert. Welche Möglichkeiten gibt es, sein Leben und seine Arbeit neu zu bewerten und können sie in Interpretationen seiner Karriere als Ganzes integriert werden? Wie passt das Jüdische in diesem Thema?

22. Januar 2019

16:15–17:45 Uhr

Stephan-Saal,

Postgebäude, EUV

Prof. Dr. Céline Trautmann-Waller (Paris)

„Jüdische Diaspora und Wissenschaft - Jüdische Wissenschaft der Diaspora“

Vortrag und Diskussion

 

Ausgangspunkt des Vortrags ist die Tatsache, dass die «Verwissenschaftlichung» des Judentums durch die so genannte Wissenschaft des Judentums am Anfang des 19. Jahrhunderts durch eine positive Besetzung des Lebens in der Diaspora unter kulturhistorischem Vorzeichen begleitet wurde. Die Folgen der Diaspora werden damals, sei es in historiographischer oder philologischer Hinsicht, als positiv gedeutet: die durch sie bedingten Kulturkontakte begründen die Rolle der Juden als Mittler zwischen den Kulturen, ihre universale geistige Aufgabe, ihre Hoffnung auf ein «versöhntes Europa» (Leopold Zunz). Bekanntlich gerät dieses Modell in Konflikt mit dem aufkommenden Nationalismus und mit dem traditionellen Religions- begriff. Es wird jedoch durch Simon Dubnow in veränderter Form weitergeführt und unterhält auch eine besondere Bezie- hung zu den Plänen jüdischer Enzyklopädien. Einen institutionellen Ort, an dem es sich hätte verankern können, fand es nur schwer. In Autobiographien jüdischer Wissenschaftler allerdings werden die frühen Erfahrungen von Mehrsprachigkeit und religiöser Vielfalt auf die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Methoden und Perspektiven bezogen. Diese komplexen Texte thematisieren nicht selten die Kombination von Innen- und Außenperspektive, das schwierige Gleichgewicht zwischen dem Judentum als Objekt und/oder Subjekt der Forschung.

Zum Schluss soll analysiert werden, welche Rolle die Auseinandersetzung mit den Bedingungen einer diasporischen Exis- tenz bei einigen frühen Soziologen gespielt hat.

29. Januar 2019

16:15–17:45 Uhr

Stephan-Saal,

Postgebäude, EUV

Dr. Elisabeth Gallas (Leipzig)

„Bücher als Ankläger: Jüdische Dokumentationen von Massenverbrechen vor und nach dem Holocaust“

Vortrag und Diskussion

 

In Reaktion auf die wachsende Gewalt, der das jüdische Kollektiv im östlichen Europa um 1900 ausgesetzt war, entstand – aufbauend auf frühere, auch literarische, Formen – ein regelrechtes Genre jüdischer Anklageschriften. Diese sollten entwe- der die strafrechtliche Ahndung von Massenverbrechen anschieben oder ihr Ausbleiben bezeugen. Jüdische Zeitgenossen suchten in dieser Form etwa die Pogrome im zaristischen Russland 1903 bis 1905 oder die antijüdischen Ausschreitungen während und nach dem Ersten Weltkrieg zur Anklage zu bringen und öffentlich zu machen. Mit dem Holocaust bekam die Form der schriftlichen Anklageerhebung noch einmal neue Dringlichkeit. Sinnfälligster Ausdruck des Genres ist wahr- scheinlich das 1946 in New York publizierte Black Book. The Nazi Crime against the Jewish People, das von den Autoren explizit als Anklageschrift gefasst wurde. Mit ihm sollte jene Stimme erhoben werden, die zahlreiche Juden für die Nürn- berger Prozesse gefordert hatten, die ihnen dort aber verwehrt geblieben war. Der Vortrag wird sich mit dieser spezifischen Form jüdischer Anklage beschäftigen und sie im Kontext kontinuierlichen jüdischen Ringens um Rechtsteilhabe im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutieren.

5. Februar 2019

16:15–17:45 Uhr

Stephan-Saal,

Postgebäude, EUV

Judith Müller (Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel / Ben Gurion Universität des Negev)

„Literarische Räume der Begegnung? Jüdisches Schreiben in Wien und Berlin vor 1938“

Vortrag und Diskussion

 

Die deutsch‐jüdische Literatur ist mittlerweile gut erforscht, auch oder gerade ihre zahlreichen „Grenzüberschreitungen“, das heißt, die Entstehung und das Erblühen deutschsprachiger jüdischer Literatur in mitteleuropäischen Städten wie Czernowitz. In diesem Zusammenhang wurde und wird die Frage nach der Deterritorialisierung jüdischen Schreibens immer wieder aufgeworfen. Diese Problematik trifft nicht nur auf kleine Literaturen zu, sondern umso mehr auf kleine Literaturen, die in „kleinen Sprachen“ verfasst werden. Es ist daher das Anliegen dieses Beitrags, das Aufeinandertreffen der deutsch‐jüdischen mit der jeweils jiddischen und hebräischen Literatur in den beiden mitteleuropäischen Metropolen Wien und Berlin näher zu beleuchten. Zentral ist hierbei nicht nur die Frage nach der Sprachwahl, die der Autor traf – falls die Wahl bestand, sondern auch jene nach der Begegnung im kulturellen Raum: Kam diese überhaupt zustande und wenn ja, wo und von wem initiiert?