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Problemkreise

Dabei werden am Lehrstuhl drei  Problemkreise näher untersucht. (Identität, Wissen, Macht und Diziplinierung)


1) Problemkreis Identität
Eines der zentralen Phänomene des letzten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts ist die radikale Veränderung der internationalen Weltordnung. Als Stichworte lassen sich Globalisierung der Ökonomie, Revolution in den Kommunikationsmedien,  Herausbildung neuer transnationaler Einheiten, internationale Migration und  Entfaltung einer „Weltinnenpolitik“ nennen. Dies wirft die Frage nach den neuen Formen politischer, sozialer und kultureller Identität in einer Welt auf, in der die Rollen der entscheidenden politischen Einheiten der letzten zweihundert Jahre, nämlich von Nation, Volk, Staat und Land reformuliert werden. Wie werden in der neuen Weltordnung die Funktionen gefasst, die mit der Institution des Nationalstaates eng verbunden waren, nämlich von Legitimität, Solidarität und Souveränität? Wie verorten wir uns in dieser „Welt in Stücken“ (Geertz)? Das Spektrum der Fragen reicht von der Analyse der Identität neuer ethnischer, lokalistischer oder religiöser Bewegungen  bis hin zur Emergenz neuer Formen transnationaler Identitäten, etwa in Diasporagemeinschaften oder transnationalen Organisationen. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang ist ebenfalls die Untersuchung des Phänomens der Grenze – und zwar sowohl in Hinblick auf nationalstaatliche Grenzen (borders), wie auf soziale Grenzen (boundaries).

2) Problemkreis Wissen
Der Frage des Wissens ist von einer entscheidenden Bedeutung in einer Zeit radikaler gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Transformation und einer dadurch bedingten neuen Unübersichtlichkeit. Die “Welt in Stücken” bezeichnet ja eine Welt, in der offensichtlich der Blick aufs Ganze verloren gegangen ist (wahrscheinlich wäre es genauer zu sagen, in der uns die Illusion eines Blicks aufs Ganze verloren gegangen ist) und in der das Vertrauen in die wissensgenerierenden Institutionen erschüttert worden ist. In einer derartigen Situation wird die Untersuchung der Prozesse entscheidend, in denen gesellschaftliches Wissen aufgebaut wird, zirkuliert und  handlungsmächtig wird.  Wie wird Wissen im Wissenschaftsbetrieb, in formalen Organisationen, also Bürokratien und Unternehmen und in sozialen Bewegungen  erzeugt oder auch in Frage gestellt? Wie setzen sich neue Wissensbestände durch?

Für eine Anthropologie spätmoderner Gesellschaften stellt sich die Aufgabe, den tiefgreifenden Veränderungen des visuellen environment Rechnung zu tragen. Die Innovationen im Medienbereich führen zu einer in der Geschwindigkeit bisher unbekannten Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, in der die Situation des Menschen verortet ist. Wir leben inzwischen in einer Welt, in welcher der visuelle, bzw. virtuelle Bereich die soziale Erfahrung konkreter zwischenmenschlicher Interaktion immer stärker verdrängt. Die fortschreitende Verbildlichung und damit einhergehende Ästhetisierung der Lebenswelt wirkt unmittelbar auf die Selbst- und Weltwahrnehmung zurück. Veränderungen dieser Tragweite kommen bei einem rein technischen Umgang mit den neuen Bilderwelten nicht hinreichend in den Blick, sie müssen von kultur- und sozialanthropologischen Fragestellungen begleitet sein. Dazu einen Beitrag zu leisten ist neben der Produktion und Analyse kulturwissenschaftlich relevanter Filmdokumente das wesentliche Anliegen der am Lehrstuhl vertretenen Visuellen Anthropologie. Gleichzeitig vollzieht sie die Öffnung zu einer Anthropologie der Sinneswahrnehmungen. Gerade bei der Untersuchung von sich verändernden Formen visueller Kommunikation und Praxis rücken die historischen und kulturellen Bedingungen unserer Wahrnehmung in den Blick und machen deutlich, dass sich die Bedeutung des Visuellen nicht ohne die Analyse eines umfassenderen Wahrnehmungsuniversums erfassen lässt.

3) Problemkreis: Macht und Disziplinierung.
Die Frage wird zunehmend bedeutsam, welche Machtprozesse in der globalisierenden Welt stattfinden. Die besonderen Prozesse von Machtentfaltung in Netzwerkstrukturen, die anderen Gesetzen gehorcht als die Machtlogik in Körperschaften, sind ebenso zu thematisieren wie Machtstrukturen in sozialen Beziehungen (gender studies, Studien zu Diskriminierung und Ausgrenzung). Dies schreibt sich insbesondere in die Logiken des Kampfes um Anerkennung ein.

Damit geraten Phänomene in den Blick der Kultur- und Sozialanthropologie, deren Erforschung bislang die Domäne der Soziologie und Politikwissenschaft war. Was macht die Besonderheit des anthropologischen Vorgehens aus? Hier ist an erster Stelle auf die Erstellung von qualitativen, auf intensiver teilnehmender Beobachtung beruhenden Einzelfallanalysen zu verweisen. Dabei liegt der Reiz anthropologischer Arbeiten in dem Versuch der Rekonstruktion dessen, was “vor Ort” geschieht, wie sich ein komplexes Geschehen den Beteiligten darstellt und wie sie handelnd damit umgehen. Dies ist ein Verfahren, das eher in die Tiefe als in die Breite geht. Es zielt auf Einsicht und Verständnis komplexer Situationen ab - statt auf Erklärung und Vorhersage - und produziert ein eher erschließendes als ein beantwortendes Wissen. Es ist unsere Überzeugung, dass ein derartiges Wissen gerade in Umbruchszeiten von Bedeutung sein kann.

Der zweite Beitrag der Anthropologie hängt eng damit zusammen. Die Anthropologie steht in einer holistischen Tradition.  Eines ihrer Grundprinzipien war es,  dass sich eine Institution oder ein Ritual nicht aus sich heraus, sondern nur aus ihrem Zusammenhang mit anderen Institutionen erfassen lässt. Die Leidenschaft der Ethnologen  gilt gerade den Grenz- und Überlagerungsbereichen. Sie thematisieren Phänomene wie politische Religion oder religiöse Politik, Ökonomie der Religion und Religion der Ökonomie,  soziale Beziehungen im Wirtschaftlichen oder wirtschaftliche Aspekte des Sozialen usw. Mit anderen Worten: Der Beitrag der anthropologischen Forschung besteht in der Verknüpfung von Fragestellungen, die üblicherweise getrennt behandelt und verschiedenen Disziplinen überantwortet werden. Während also die Politikwissenschaft, die Volks- und Betriebswirtschaft, die Religionswissenschaft und die Soziologie einen Gegenstand aus ihrer je spezifischen Perspektive bestimmen, ist die Anthropologie in gewisser Weise unspezifisch. Dies hängt wiederum mit der oben ausgeführten Orientierung an Tiefenstudien zusammen. Eine derartige Suche nach Zusammenhängen kann nämlich  nur durch die intensive Analyse von Einzelfällen erfolgen, wenn sie nicht oberflächlich bleiben soll.

Auf Grund der am Lehrstuhl vertretenen thematischen Positionen macht es keinen Sinn, der an anderen ethnologischen Instituten vertretenen Praxis zu folgen und einen regionalen Schwerpunkt zu definieren. Gleichwohl spielen der Vordere Orient und Europa als regionale Schwerpunkte der Dozenten eine wichtige Rolle. Ein besonderes Interesse gilt darüber hinaus den gegenwärtigen Vorgängen in Mittel- und Osteuropa. Diese Orientierungen werden immer dann relevant, wenn die skizzierten Prozesse soziokulturellen Wandels und transkultureller Übersetzungen empirisch erforscht und in der Lehre erläutert werden.