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Fremde Gemäuer? – Studienreise erkundet historische Residenzorte im heutigen Westpolen

SulechowZüllichau ©Peggy Lohse

Am letzten Septemberwochenende 2021 machte sich zum zweiten Mal eine Studiengruppe auf den Weg zu entlegenen Dörfern und kleinen Städten, um die Vielfalt der Architektur und Historie von Herrenhäusern und Gutsanlagen sowie das Schicksal ihrer Erbauer und Bewohner zu erkunden. Diesmal führte die Reise in die Wojewodschaft Lubuskie und ihre Geschichte voller Umbrüche.

Eine begehbare Ruine soll es werden – das verfallene Johanniterschloss in Słońsk, ehemals Sonnenburg (Foto unten). Nach einem Brand in den 70er Jahren jahrzehntelangem Leerstand und zunehmenden Witterungsschäden gibt es nun doch ein Nutzungskonzept für das braune, an diesem kühlen und windigen Septembermorgen bedrohlich erscheinende Gebäudegerippe. Die mehr als 50 neugierigen Augen und Ohren der Viadrina-Reisegruppe bewundert den Bau, die großen, leeren Fensterhöhlen, die kleinen Stuck-Reste in den Ziegelmauern. Sie beginnen hier in Słońsk ihre dreitägige Studientour zu insgesamt 16 Residenzorten, Herrenhäusern und Schlössern in der einstigen Neumark und dem Sternberger Land, heute größtenteils gelegen in der westpolnischen Wojewodschaft Lubuskie (Lebuser Land) zwischen den städtischen Zentren Gorzów Wielkopolski (Landsberg an der Warthe) und Zielona Góra (Grünberg).

SlonskSonnenburg ©Peggy Lohse

Das progressive Konzept der „begehbaren Ruine“ sei in Polen heute noch nicht besonders populär, die Entscheidung für das Johanniterschloss darum umso wertvoller, erläutert die Kunsthistorikern Dr. Sibylle Badstübner-Gröger, die die Studiengruppe alle drei Tage durch die neumärkische Residenzhistorie führt. Gemeinsam mit Błażej Skaziński vom Denkmalamt in Gorzów erzählen und erklären sie von den ruhmvollen Zeiten vor den Weltkriegen und den Entwicklungen und Schwierigkeiten im Umgang mit den für die seit 1945 größtenteils neuen Bevölkerungsgruppen in der Region mit den alten deutschen architektonischen Kulturgütern. Denn die prunkvollen Bauten waren sowohl für die politische Führung der kommunistischen Volksrepublik Polen als auch die Bewohner der Region, die nach der Aussiedlung der Deutschen aus Großpolen, Gebieten der heutigen Ukraine und Belarus oder auch mit zurückkehrenden Kriegsgefangenen besiedelt worden waren, Überbleibsel einer fremden und durch den zweiten Weltkrieg auch verhassten Kultur der Deutschen und Großgutsbesitzer.

Umso beeindruckender aber sind das heute wachsende Interesse und die zunehmende Pflege jener Kulturgüter, deren Sanierung und Unterhalt ein zweifelsohne aufwendiges und kostspieliges Unterfangen ist. Für Słońsk bedeutet das: Vor dem Gebäude werden schon jetzt Wege gepflastert, im Innern haben Sanierungsarbeiten begonnen, mit dem Ziel, eben jene „begehbare Ruine“ zu sichern, die dann in ein regionales Tourismuskonzept aufgenommen und auch digital mit einer App besucht und erkundet werden kann.

DabroszynTamsel ©Peggy Lohse

Von engagierten, verschlossenen und adeligen Besitzern

Die Zeit ist knapp, das Programm dicht gestrickt, die per Bus zu überwindenden Strecken zwischen den Residenzorten dauern ihre Zeit, teils über holprige, aber romantisch anmutende Kopfsteinpflasterstraßen. Die zweite Station ist Dąbroszyn (Tamsel, Foto oben), wo das Herrenhaus jedoch verschlossen steht, womöglich aus Sicherheitsgründen. Doch die benachbarte Kirche ist offen. Und die Kirchen, so betont Dr. Badstübner-Gröger immer wieder, sind auch bedeutsam im Zusammenspiel mit dem Residenzgebäude: Im Falle von Tamsel finden sich hier in der Kirche beispielsweise wertvolle Büsten und Gruften der Familie von Schöning, die die Gruppe noch öfter auf ihrer Neumarkreise antreffen sollte.

Im Schloss in Dolsk (Dölzig) dagegen bitten der Hausherr Fryderyk Mudzo (siehe Foto unten) und seine Frau zu einer Führung durch das vor kurzem noch stark verfallene Anwesen, das das junge Paar und Mudzos Familie schrittweise, Raum für Raum saniert und künftig nicht nur zur eigenen Nutzung, sondern auch für Tanzveranstaltungen und Feierlichkeiten nutzen möchte. 

DolskDoelzig_FryderikMudzo ©Peggy Lohse

Weniger optimistisch schauen die Besitzer des Anwesens in Jarnatów (Arensdorf, Foto unten) – einst erbaut nach Plänen des königlich preußischen Hofarchitekten Ernst Eberhard von Ihne – in die Zukunft, die extra aus Poznań anreisten, um durch das Gebäude zu führen. Obwohl die Bausubstanz hier, so betonen es auch Badstübner-Gröger und Skaziński immer wieder, viel besser erhalten ist als in Dolsk, wird es in den letzten Jahren ausschließlich von Schafen und Ziegen bewohnt, sie sich mit Hingabe um den Wildwuchs in dem weiten, wilden Park kümmern. Letzte Nutzung war nach 1945 ein Freizeitheim für Polizei-Angehörige, davon zeugt auch noch ein Pool mit Betonrutsche im Garten. Am anderen Ende des Ortes befindet sich, versteckt im Wald, außerdem ein Mausoleum der Familie Böttinger, die das Herrenhaus ab 1909 besaß und weiter gestaltete.

JarnatowArensdorf ©Peggy Lohse

In dem touristisch schon populäreren Örtchen Lubniewice (Königswalde) gibt es gar zwei Schlösser. Das ältere wird gerade saniert, im neuen Schloss befindet sich der Sitz einer Stiftung des polnischen Adelsgeschlechts Lubomirski, die auch Besitzer beider Schlösser im Ort sind. Mit Staunen bewundert die Reisegruppe das reich ausgestaltete Anwesen mit Ritterrüstungen, Holzvertäfelung, orientalischem Baderaum und anderen Finessen. Auch in der Schöder-Villa in Gorzów sind im Anschluss zahlreiche Details der einstigen Innenausstattungen der alten Adelssitze zu sehen: Hier befindet sich heute das Lebuser Museum, das Zinn-Objekte und Möbelstücke, Büsten, Bilder und anderes Interieur aus der Region zusammengetragen hat.

ZalogaSkazinskiBadstüber_Gorzow ©Peggy Lohse

Trauung, Schule oder Pflege – alles mit Turm

Wie auch in anderen Gegenden, werden auch in Westpolen einige der alten Residenzorte für Gastronomie und als Event-Location genutzt – nur verständlich, da die Restaurierungs- und Erhaltungskosten auch ausgeglichen werden müssen. So kann in Glisno (Gleißen) ein „kleines Sanssouci“ mit romantischer, künstlicher Ruine gemietet werden. In Wiejce (Waitze, Foto unten) – am äußersten Rand der Wojewodschaft – lädt ein hübsch gestalteter Hof Feiergesellschaften ein. Im Innern finden sich überraschenderweise auch Gemälde deutscher Geschichte, z.B. von der Reichsgründung. Das touristisch besonders beliebte Łagów (Lagow) bietet als Ausflugsort und das Schloss besonders einen bekannten überdachtem Innenhof für Feierlichkeiten an.

WiejceWaitze ©Peggy Lohse

Im Unterschied zu vergleichbaren Objekten in Nordostbrandenburg, die einen Monat zuvor besucht wurden, werden Herrenhäuser in Lubuskie auch heute noch als soziale genutzt: So befindet sich im Anwesen in Murzynowo (Morrn, Foto unten) –  verbunden mit dem Berliner Architekten Karl Heinrich Eduard Knoblauch (1801 – 1895) – eine Grundschule. Dafür wurden auch Räume geteilt, was auch der unterbrochene Deckenstuck verraten hätte, wenn es nicht die Direktorin selbst in ihrer herzlichen Führung angesprochen hätte.

MurzynowoMorrn ©Peggy Lohse

In dem märchenhaft, fast kitschig anmutenden, Schloss in Toporów (Topper, Foto unten) wiederum befindet sich heute ein Pflegeheim für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen. Die Anlage mit dem Mittelalter vortäuschendem Turm kann nur übern Zaun betrachtet werden. Je mehr Objekte besucht werden, desto offensichtlicher wird die Vorliebe der Auftraggeber für Türme: Auch wenn sie im 19. Jahrhundert entstanden, sie sollten eine besonders lange – am besten bis ins Mittelalter reichende – und starke Familientradition symbolisieren, so erklären diese Mode vor Ort Dr. Badstübner-Gröger und Prof. Paul Zalewski vom Lehrstuhl für Denkmalkunde der Europa-Universität Viadrina, der die Studienreise organisierte.

ToporowTopper ©Peggy Lohse

In Trzebiechów (Trebschen) findet sich gar alles an einem Platz: Das Sanatorium und heute Altersheim im Jugendstil des beginnenden 20. Jahrhunderts, erbaut von dem niederländischen Architekten Henry van de Velde, nebenan das im Barockstil umgebaute Renaissanceschloss Friedrichshuld, früher im Besitz der Fürsten Reuß, dessen Hauptgebäude im 19. Jahrhundert von dem Wiener Architekten Viktor Rumpelmeyer entworfen worden war und heute auch als Schulgebäude dient und am anderen Ende der der Dorfstraße folgenden Sichtachse eine spätklassizistische Kirche von 1840, die dem Stile Schinkels folgt.

TrzebiechowTrebschen_Sanatorium ©Peggy Lohse TrzebiechowTrebschen_Schloss ©Peggy Lohse

WilkowoWilkau ©Peggy Lohse

Das Ende des Fremdseins?

In Wilkowo (Wilkau, Foto oben) liegt ein großer Wirtschaftshof mit Gebäuden aus Feldstein und Agrarmaschinen, bewacht von Hunden, neben der Villa am See, deren Terrasse, Freitreppe und Steg zum See in der herbstlichen Abendsonne leuchten. Der Besitzer konnte trotz aller Recherche nicht ermittelt werden. In Sulechów (Züllichau, Titelfoto) derweil dient das Schlossgebäude mit dem historischen Bergfried heute als Kulturzentrum und Touristeninformation mitten im Ortszentrum. Ein Spaziergang vorbei an der – einst calvinistischen! – Kirche über den Markt zum Crossener Tor weist auf die letzte Besuchsstation am Nachmittag des dritten Exkursionstages hin: Die Studienreise endet dann im Piastenschloss in Krosno Odrzańskie (Crossen an der Oder), einem Kunst- und Kulturzentrum an der Oder mit einer lebendigen Führung durch die bunten Museumsräume. Von dem aus historischer Perspektive zu erwartenden Fremdeln ist nach diesen drei Tagen nichts mehr zu spüren: nicht innerhalb der gemischten neugierigen Gruppe aus Studierenden, Dozierenden, im Denkmalschutz Engagierten oder einfach interessierten Menschen aus der Region, nicht im Umgang der Herrenhaus-Besitzer mit den Objekten, die scheinbar mehr nach pragmatischen Gesichtspunkten wie Förderoptionen und Wirtschaftlichkeit entscheiden.

KrosnoCrossen ©Peggy Lohse 

Text und Bilder: Peggy Lohse (Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Denkmalkunde)

Diese und folgende Studienreisen finden im Rahmen des Projektes: „Das Meer – Pommern – die Grenzregion als Orte des deutsch-polnischen Dialogs. Grenzübergreifendes Netzwerk zur wissenschaftlichen Kooperation und historischen Bildung über Ostsee und Odergebiet“ statt. Das Projekt wird durch die Europäische Union aus Mitteln des Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) kofinanziert. Weitere Studienreisen und eine Konferenz zum Thema folgen im Jahr 2022.