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Exkursion „Das jüdische Leben der Zwischenkriegszeit“

Samhorodok_jüdischer_Friedhof_photo-resizer.ru ©Roman BoichukSynagoge_Showkwa (2)_photo-resizer.ru ©Roman BoichukLwiw_Terrirtoriums_der Terrors_photo-resizer.ru ©Roman BoichukBerdytschiw_Friedhof_photo-resizer.ru ©Roman Boichuk  

Exkursion „Das jüdische Leben der Zwischenkriegszeit“

PROGRAMM

Mehr Informationen zu einzelnen Programmpunkten sowie mehr Bilder sind unter: https://viadrinagoesukraine.wordpress.com zu finden

Lwiw –Showkwa –Winnyzja – Samhorodok - Berdytschiw– Kyjiw

05. – 10. August 2019

Zehn Viadrina-Studierende legten in fünf Tagen über 700 Km in der Ukraine hinter sich, um das jüdische Leben der Zwischenkriegszeit in der Region zu erforschen. Untersuchungsgegenstand der Exkursion war die jüdische Geschichte Ostpolens und der Ukrainischen SSR zwischen 1917 und 1939 sowie das Zusammenleben mit anderen Nationalitäten. Die Reiseroute der Exkursion führte sie sowohl in die großen Städte wie Kyjiw, Winnyzja und Lwiw als auch in kleinere Ortschaften wie Showkwa, Berdytschiw und Samhorodok, die für die jüdische Geschichte der Region von großer Bedeutung sind. Anhand dieser Städte lässt sich das jüdische Leben in der Zwischenkriegszeit besonders gut nachvollziehen. Während das Leben der jüdischen Gemeinden im ehemaligen Ostpolen relativ gut erforscht ist, gibt es in der Forschung über die Gemeinden im sowjetischen Gebiet viele Lücken. Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass die Teilnehmenden die Möglichkeit bekamen, sich einen Eindruck von beiden Gebieten zu verschaffen und einen Einblick in die Vielfalt des jüdischen Lebens vor dem Zweiten Weltkrieg zu bekommen. Hierbei war der Ansatz wichtig, über das jüdische Leben vor der Vernichtung zu reden, da es unter anderem den Holocaust-Opfern ihre Stimme zurückgibt und das Ausmaß der Zerstörung deutlich macht. Den Impuls für diese Reise gab die Vorlesung von Prof. Dr. Andrii Portnov „Introduction into Jewish History of Russia, Poland and Ukraine“.

Die Forschungsreise begann in Lwiw mit dem Besuch des Center for Urban History for East Central Europe, wo Sozialwissenschaftlerin Dr. Natalia Otrishchenko über die Arbeit des Zentrums berichtete und erläutete, auf welche Art und Weise Städte „gelesen“ werden können. Nach der Mittagspause gab der Historiker Andrii Usach eine Führung im Museum Territorium des Terrors, wo über die Herausforderung diskutiert wurde, wie man den nationalsozialistischen und stalinistischen Terror in einem Museum darstellen kann. Das ehemalige Gefängnis in der heutigen Tschornowolastraße war ein Ort sowohl der nationalsozialistischen als auch der stalinistischen Verbrechen. Historische Stadtspaziergänge auf den jüdischen Spuren waren Programmpunkte in jeder besuchten Stadt. Anhand dieser Spaziergänge lernten die Studierenden die Geschichte in der äußerlichen Stadtstruktur zu erkennen und zu rekonstruieren.

In Showkwa, einem ehemaligen Schtetl, wurde während der Führung durch die Lehrerin und Lokalhistorikerin Natalia Hurska viel über das Neben- und Miteinader verschiedener Nationalitäten in der Kleinstadt diskutiert. Das war die Frage, die während der Reise immer wieder aufgetaucht ist und auf die es keine eindeutige Antwort gibt bzw. die in jedem der besuchten Ortschaften anders ausfällt. Eins wurde den Teilnehmenden klar: Die Welt, die es vor 1939/1941 gab, ging für immer verloren. Alte Synagogen und Friedhöfe erinnern jedoch daran. 

Die Reise durch die ukrainischen Städte und Dörfer war gleichzeitig auch eine mentale Reise zwischen historischen Ereignissen und der Erinnerung an sie. In der Ukraine setzt allmählich der Prozess ein, jüdische Geschichte als Teil ukrainischer Geschichte zu betrachten. In Lwiw und Showkwa besuchten die Studierende jüdische Friedhöfe, die in sowjetischen Zeiten zu Märkten wurden. Bis vor Kurzem erinnerten nur wenige Grabsteine daran, dass es Orte der letzten Ruhe sind. Jetzt erinnert auch eine Gedenktafel daran. Beim Besuch des ehemaligen Schtetls Samhorodok wurde die deutsche Reisegruppe zum Zeugen, wie ein Gedenkstein auf einem jüdischen Friedhof aufgestellt wurde, wo während der deutschen Besatzung Erschießungen stattfanden. Dieser Gedenkstein wurde von der lokalen Gemeinde initiiert und mitfinanziert, auch wenn im Dorf seit über zwanzig Jahren keine Juden mehr leben. Die Begegnungen mit Lokal- und FachhistorikerInnen ermöglichten eine Diskussion über die Unterschiede zwischen dem jüdischen Leben in der UdSSR und Polen vor dem Zweiten Weltkrieg. In Winnyzja, Berdytschiw und Kyiw wurden die Studierende warmherzig von den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden empfangen. In den Räumlichkeiten der Synagogen boten sie der Gruppe Raum zu Gesprächen über die jüdische Religion und Traditionen und die Rolle der Gemeinden im gesellschaftlichen Leben früher und heute an.

Zum Abschluss der Forschungsreise besuchten die Studierenden das Ukrainische Zentrum für Holocaust-Studien, wo sie mit dem Direktor des Zentrums, Dr. Anatolii Podolsky, und Vitalii Bobrov, dem Koordinator der Bildungsprogramme des Zentrums, über das jüdische Leben in Ostpolen und in der UdSSR sprachen sowie darüber, wie der Wissensstand über die jüdische Kultur in der heutigen Ukraine ist. Die Teilnehmenden mussten feststellen, dass man leider immer noch wenig darüber weiß, obwohl jüdische Geschichte Bestandteil der europäischen Geschichte ist. 

Insgesamt waren es fünf Tage spannender Begegnungen, intensiven Austausches und vieler Diskussionen, die auch im Bus und während der Abendessen andauerten. Die Reise führte die Verwobenheit der Geschichte ein weiteres Mal ans Licht: Die Exkursion zum jüdischen Leben der Zwischenkriegszeit wurde zum Exkurs in das jüdische Leben des 20. Jahrhunderts auf dem Territorium der heutigen Ukraine.

Finanziert wurde die Exkursion aus den Mitteln der Kulturwissenschaftlichen Fakultät und des Lehrstuhls für Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas der Europa-Universität Viadrina