Diskussionforum
Interkulturelle Literatur, Gastarbeiterliteratur, Migrantenliteratur – bereits diese unbefriedigenden Versuche, eine treffende Bezeichnung zu finden, spiegeln die Vielschichtigkeit eines literarischen Phänomens, das heute zum festen Bestandteil einer grenzüberschreitenden europäischen Literatur geworden ist. Solche Vielschichtigkeiten auszuloten, ohne althergebrachte Grenzen einer nationalistischen Kanonisierung neu zu errichten, ist eines der Ziele des offenen Diskussionsforums Bewegtes Europa, das die Axel Springer-Stiftungsprofessur für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration seit dem WS 2012/13 an der Europa-Universität Viadrina veranstaltet. Dabei geht es auch darum, die Perspektiven unterschiedlicher Fachtraditionen zusammenzuführen und in produktiver Weise miteinander ins Gespräch zu bringen. Das Offene Forum Migration und Literatur bietet daher Interessierten aller Fachrichtungen die Möglichkeit, aktuelle Forschungsaspekte kennenzulernen und in einen Austausch mit internationalen Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung zu treten.
Aktuelle Veranstaltungen:
Workshop "Bewegtes Europa. Offenes Forum Migration und Literatur" |
22. Juni 2023,
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Link zum ProgrammMit folgenden Veranstaltungen: |
22. Juni 202311:00–12:45 UhrHauptgebäude, Raum 109 (Senatssaal)
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Lea Laura Heim (Frankfurt/Oder)Literarische Strategien der Gesellschaftskritik in Romanen der deutschen GegenwartsliteraturDissertation |
Lea Laura Heim |
Ein präsentes Thema in der zeitgenössischen deutschen Literatur ist die soziale wie strukturelle Marginalisierung und Exklusion aufgrund (zugeschriebener) Herkunft, Geschlechtsidentität sowie sozialer Klasse. Wie sich solchen gesellschaftlichen Ausgrenzungen mit literarischen Strategien entgegengestellt wird, soll am Beispiel literarischer Texte von Sasha Marianna Salzmann, Olivia Wenzel, Deniz Ohde und Fatma Aydemir untersucht werden. Methodisch vollzieht die geplante Untersuchung dabei einen Blickwechsel weg von der – insbesondere im öffentlichen, aber auch wissenschaftlichen Diskurs – vorherrschenden Fokussierung auf das migrantisierte und/oder rassifizierte Subjekt hin zu dem in den Texten erkennbaren Potenzial einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Die Dissertation untersucht, mit welchen literarischen Mitteln sich die betrachteten Werke (und damit auch ihre Autor*innen) gesellschaftskritisch äußern und so auch auf künstlerisch-ästhetischer Ebene diskursive kulturelle Mitbestimmung einfordern. Ob sie sich damit einen Platz im nationalen literarischen Kanon verschaffen wollen oder diesen eher prinzipiell in Frage stellen, bleibt zu untersuchen. |
22. Juni 202314:00–15:30 UhrHauptgebäude, Raum 109 (Senatssaal)
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Dr. habil. Wiebke Sievers (Wien / Frankfurt/Oder)Postmigrantische Literaturgeschichte: Wege in eine neue GesellschaftVorstellung der Habilitationsschrift |
Dr. habil. Wiebke Sievers |
Im Zentrum meines Vortrags steht die Frage, ob und wie Literatur zu einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung beiträgt, die die gleichberechtigte Teilhabe von Zugewanderten und ihren Nachkommen in europäischen Gesellschaften garantiert. In meiner Habilitationsschrift habe ich mit der postmigrantischen Literaturgeschichte auf Basis von Pierre Bourdieus literarischer Feldtheorie einen theoretischen und methodologischen Neuansatz entwickelt, der eine wissenschaftliche Analyse dieses Veränderungsprozesses ermöglicht. Anders als in vielen Publikationen zum Thema Migration und Literatur wird die Rolle der Literatur dabei als ambivalent wahrgenommen. Einerseits waren Schriftsteller*innen von zentraler Bedeutung für die Imagination der homogenen Nationen, die zur Ausgrenzung von Immigrant*innen und deren Nachkommen führte. Andererseits konnten diese die Grenzen, mit denen sie sich konfrontiert sahen, in der Literatur früher überwinden als zum Beispiel in der Politik. Ihre daraus resultierende Anerkennung als Autor*innen ermöglichte ihnen wiederum, als relevante Stimmen in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über Migration wahrgenommen zu werden. In meinem Vortrag werde ich anhand des Beispiels Österreich zunächst kurz erklären, wie es im Prozess der Nationalisierung der Literatur zur Ausgrenzung von Immigrant*innen kam. Anschließend gehe ich darauf ein, wie Autor*innen von Vladimir Vertlib bis Anna Kim diese Grenzziehungen überwanden. Mein Fokus liegt dabei auf Anna Kim, die sich in Österreich nicht nur als Immigrant*in, sondern als Person of Colour ausgegrenzt sieht. Mit ihrem Werk versucht sie diese Grenzziehungen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven aufzulösen. In ihrem Debüt Die Bilderspur (2004) entwickelt sie in Anlehnung an Friederike Mayröcker eine Sprache, die People of Colour Zugehörigkeit ermöglicht. In ihrer anschließenden Romantrilogie – Die gefrorene Zeit (2008), Anatomie einer Nacht (2012) und Die große Heimkehr (2017) – versucht sie inspiriert von Ingeborg Bachmanns Todesarten-Zyklus, den Opfern von Genozid, Kolonialismus und Kaltem Krieg weltweit im deutschsprachigen Raum Aufmerksamkeit zu verschaffen. Damit schreibt sie die Literatur über die thematische Begrenzung auf Österreich bzw. Deutschland hinaus, die im Zuge der Nationalisierung zu greifen begann, und macht deutschsprachige Literatur zu Weltliteratur. |
22. Juni 202315:45–17:00 UhrHauptgebäude, Raum 109 (Senatssaal)
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Bewegtes Europa. Offenes Forum für Literatur und MigrationPerspektiven der Migrationsforschung an der ViadrinaProf. Dr. Kerstin Schoor im Gespräch mit: |
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Archiv vergangener Veranstaltungen:
28. Januar 201918:00 UhrGräfin-Dönhoff-Gebäude, Hörsaal 1, Europa-Universität Viadrina |
FILMVORFÜHRUNG„Transit”(D 2018, 101 Min.) |
10. Juli 201811:15–12:45 UhrEuropa-Universität Viadrina, Gräfin-Dönhoff-Gebäude, Hörsaal 05 |
Prof. Dr. Jin-Ah Kim (Hankuk University Seoul/HU Berlin)„Grenzüberschreitungen. Kulturelles Handeln von Migrant*innen aus praxeologischer Perspektive “Vortrag und Diskussion |
10. Juli 201316:00–18:00 UhrStephanssaal |
Prof. Dr. Joanna Jabłkowska (Univ.Łódź)„Fremdkörper? Versöhnung? Polnische Migrantenliteratur in Deutschland.“Vortrag und Diskussion |
![]() Prof. Dr. Joanna Jabłkowksa |
Der polnische Literaturwissenschaftler Jan Błoński fragte einst, ob es eine oder zwei polnische Literaturen gebe, die Literatur, die in Polen entsteht und die Exilliteratur, und leitete damit eine wichtige Debatte ein. In der Tat, wichtige Werke der polnischen Nationalliteratur entstanden im Exil: im 19. Jahrhundert Werke von Adam Mickiewicz, Juliusz Slowacki, Zygmunt Krasiński, Cyprian Kamil Norwid, im 20. Jahrhundert von Czesław Miłosz, Witold Gombrowicz, Gustaw Herling-Grudziński und vielen anderen. Die letzte Phase der politischen Emigration begann Anfang der 80er Jahre, nach der Verhängung des Kriegszustands in Polen. Nach 1989 begannen Reintegrationsprozesse, viele Dichter kehrten nach Polen zurück; viele versuchten als Mittler zwischen der polnischen und anderen Kulturen zu wirken, doch bis heute ist das Exil aus der Landschaft der polnischen Kultur nicht zu tilgen. Die polnische Migrantenliteratur in der Bundesrepublik schreibt sich in diese Tradition ein. Allerdings hat sie ihren eigenen Charakter entwickelt. Am Beispiel der Werke von einigen Autoren, die in der Bundesrepublik oder in den beiden Ländern leben, polnisch oder deutsch oder in den beiden Sprachen schreiben, wird das Phänomen der polnischen Migrantenliteratur gezeigt. |
![]() Prof. Dr. Walter Schmitz |
Migration nach 1945, vor allem die Arbeitsmigration seit Mitte der 1960er Jahre, hat nicht nur die Gesellschaften in den deutschsprachigen Ländern verändert; sie hat Deutschland auch zu einem Einwanderungsland gemacht. Aus der Erfahrung „Migration“ entstehen neue, grenzüberschreitende Lebensläufe, neue Lebenserzählungen und eine Literatur, die auf diese Erfahrungen in vielfältiger Weise reagiert. Die literarische Landschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz hat sich seither grundlegend verändert. |
Dr. Cornelia Zierau |
Das Schreiben in einer Zweitsprache enthält auf linguistischer und semantischer Ebene Spuren von Mehrsprachigkeit und Interlingualität, die ein umfassendes Sprach- und Kulturwissen implizieren. Diese werden ästhetisch eingebunden und verdichten sich somit zu literarisch, kulturell und sprachlich vielstimmigen Texten. Gerade Autorinnen und Autoren, die in der Zweitsprache schreiben, verknüpfen häufig in interessanter Weise ein ästhetisches Programm der Polyphonie und Mehrdeutigkeit mit Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt, so dass – im Sinne Homi Bhabhas – Spuren kulturellen Wissens gelegt und innovativ zu neuen hybriden kulturellen Räumen arrangiert werden. Im Vortrag soll ausgehend von Überlegungen darüber, was die Begriffe "Mehrsprachigkeit" und "Sprachreflexivität" implizieren, diesen Aspekten in interkulturellen literarischen Werken genauer nachgegangen werden: Welche Möglichkeiten der Inszenierung von Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt gibt es? Welche Effekte werden dabei erzeugt? Welches kulturelle und sprachliche Wissen kommt dabei zum Vorschein? |
8. Januar 201316:15–18:00 UhrAM 02 |
Dr. Wiebke Sievers (Österr. Akadmie der Wissenschaften, Wien):"Lässt sich das überhaupt vergleichen? Migration und Literatur in Europa, den USA, Kanada und Australien"Vortrag und Diskussion |
![]() Dr. Wiebke Sievers |
Migrationsliteratur wird in der Literaturanalyse gern als transnationales Phänomen gelesen, das Nationen und Kulturen per se in Frage stellt. Der vergleichende soziologische Ansatz dieses Vortrags versucht dagegen zu zeigen, wie stark die Entstehungsgeschichten und Interpretationen dieser Literaturen in ihren jeweiligen nationalen Kontexten verankert sind. Grundlage des Vortrags ist ein in Entstehung befindliches Handbuch zu Migration und Literatur, das sich diesem Phänomen in 13 verschiedenen Ländern widmet. |
13. Dezember 201216:15–18:00 UhrStephanssaal |
Prof. Dr. Gerhard Bauer (FU Berlin):"Postkolonialismus auf Deutsch? politisch? kulturell. literarisch!"Vortrag und Diskussion |
![]() Prof. Dr. Gerhard Bauer |
In der angloamerikanischen Bewältigung des kolonialen Erbes und der französischen Auseinandersetzung mit den im eigenen Land nachlebenden Zeugen des großen Abenteuers „Algerien“ hat das theoretische Konzept eines „Postkolonialismus“ einen hohen Rang. Es setzt auch die Migration, die human folgenreichste Seite der Globalisierung, einer verschärft kritischen politischen, politökonomischen und sozialen Reflexion aus. Aber in Deutschland? Seine koloniale Vergangenheit zählt kaum gegenüber der der „großen“ Kolonialmächte – oder ist sie nur vergessen? Seine Migranten rücken nicht in die Rolle seiner einstigen „Feinde“ und Kulis ein – oder doch? in wie fern? Was wird aus den schön klingenden kulturellen, sozialen, individuellen Gewinnen der Migration, wenn man die hierorts vergessene, also unbewusst nachlebende kolonialistische Mentalität berücksichtigt, wenn man sie bis ins neuerdings unentbehrliche „head hunting“ verfolgt? Aber die Literatur, die sich ihre Autonomie, ihre Souveränität, auch ihre Lockerheit und ihre vielen, z. T. tiefernsten, Späße nicht nehmen lässt! Hat sie mit jenem düsteren Erbe überhaupt zu tun? Kehrseitig, reziprok, „writing back“ oder noch anders? |