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Dr. Pablo Valdivia Orozco

Provisorium und Kritik: Zur Genese eines Wissensdiskurses in den Literaturen der Frühen Neuzeit: Petrarca, Montaigne, Gracián

Gegenstand ist die spezifische Zeitlichkeit eines literarisch-rhetorischen Wissensdiskurses, für den sich in der Neuzeit der Begriff der Kritik etabliert hat. Die These lautet: Die Zeit der Kritik ist die Zeit des Provisoriums. Das Provisorium begreife ich dabei als die in der Frühen Neuzeit erfolgende weltliche Umbesetzung der heilsgeschichtlich und theologisch konnotierten providentia im Sinne einer säkularen und genuin anthropologischen Zeit der Provision oder auch Vorsicht. Diese Zeitlichkeit gilt es bei allen Gemeinsamkeiten vom methodisch begründeten Provisorium zu unterscheiden, das mit Descartes wissenschaftstheoretische Karriere gemacht hat. Die kritische Kraft des Provisoriumsbegriff ist ursprünglich nicht methodologisch motiviert, sondern verweist auf eine in der Frühen Neuzeit erneuerten rhetorisch-literarischen Tradition.

Ausgehend von drei exemplarischen Studien zu Petrarca, Montaigne und Gracián wird die literarische Genese dieser Figur diskutiert. Dabei gehe ich davon aus, dass die Zeit des Provisoriums in diesen Texten nicht nur thematisch wird, sondern zum einen die spezifische Textualität der neuzeitlichen Literaturen ausmacht und zum anderen im kritischen Umgang mit Texten der Tradition sich exemplarisch vollzieht. Für die Genese neuzeitlicher Literarizität ist die Zeitlichkeit des Provisoriums begründend und mit ihr die Frage einer grundsätzlich endlichen Situation: Wie kann sich ein grundsätzlich brüchiges und der Figurierung immerzu bedürftiges Jetzt positiv behaupten? Anders als beim methodisch abgesicherten Provisorium, das ein von Dogmen entlastetes Jetzt auf eine abstrakte und offene Zukunft bezieht, ist die Leistung der stellvertretenden Figurierung immanent und das meint: in eben jenem Jetzt kritisch zu evaluieren, dass sich qua Figurierung erst zur Gestaltung bringt. Einer in den neuzeitlichen Literaturen sich begründenden Kritik geht es folglich nicht um die methodische Verwaltung des Provisoriums, sondern um eine produktive Transformation, die Potentialitäten freisetzt. Die im Provisorium zu erstreitende Zeit der Kritik wird so zu einer anthropologisch wie auch politisch-ethisch aufgeladenen Jetzt-Zeit, die sich in ihren Figurierungen spezifiziert.

Im Ausblick stelle ich die Frage, welche kulturtheoretische Relevanz dieser Wissensdiskurs der Kritik und sein Begriff des Provisoriums heute noch haben können. Diese Frage – und auch dies begründet das Korpus – diskutiere ich exemplarisch für die Romanistik und an ihren kulturtheoretischen, kulturgeschichtlichen und kulturtechnischen Begründungserzählungen und Perspektiven.