Viadrina-Gastdozentin Prof. Dr. Agnieszka Mrozik forscht zu Transformationserfahrungen in Deutschland und Polen

Im aktuellen Sommersemester ist die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Agnieszka Mrozik von der Polnischen Akademie der Wissenschaften Gastdozentin am Studiengang Master of European Studies (MES). Die Expertin für Erinnerungspolitik forscht aktuell zu der Art, wie sich Menschen in Ostdeutschland und Polen an die Wendezeit erinnern. Im Interview erzählt sie von der Bedeutung des dialogischen Erinnerns und warum dieses auch für das Verständnis der heutigen Politik so wichtig ist.

Prof. Agnieszka Mrozik, wie ist Ihre Verbindung zur Viadrina; warum haben Sie sich auf die Gastdozentur beworben?

Im vergangenen Jahr habe ich auf Einladung von Jennifer Ramme eine Vorlesung im Rahmen einer Reihe zu Gender Studies an der Viadrina gehalten. Das Interesse war groß und so hielt ich es für eine gute Idee, mich auf die Gastdozentur zu bewerben. In Polen unterrichte ich fast nie; an der Akademie haben wir den Luxus, uns auf die Forschung konzentrieren zu können. Aber ich vermisse diese Konversation mit anderen, mit jungen Menschen. Das habe ich in meinen Veranstaltungen den Studierenden auch gleich gesagt: Ich will hier keine Vorlesungen halten, sondern vor allem auch hören, was Sie zu sagen haben.

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Eines der Seminare, die Sie an der Viadrina anbieten, beschäftigt sich mit Erinnerungen an die Wendezeit in Polen und Ostdeutschland – ein Thema, zu dem Sie auch forschen. Worin besteht ihr Forschungsprojekt?

Unser Projekt – ich forsche gemeinsam mit Dr. Ksenia Robbe von der Universität Groningen, Dr. Andrei Zavadski von der Technischen Universität Dortmund und Nora Korte vom Austausch e. V. in Berlin – hat den langen Titel „Reconstituting Publics through Remembering Transitions: Facilitating Critical Engagement with the 1980–90s on Local and Transnational Scales“. Es geht um Erinnerungen an die Transformationen der 1980er- und 1990er-Jahre in Zentraleuropa, besonders in Polen und Deutschland.

Am 24. Mai laden Sie im Rahmen des Projektes zu einer Filmvorführung in Eisenhüttenstadt ein. Warum ausgerechnet Eisenhüttenstadt?

Unser Konzept ist es, mit einer öffentlichen Filmvorführung in jeweils zwei deutschen und zwei polnischen Städten präsent zu sein und zur Diskussion einzuladen. Wir waren schon in Danzig im Solidarność-Zentrum, im Textilmuseum in Łódź und im Humboldt-Forum in Berlin. Wichtig ist, dass es Orte mit verschiedener Geschichte sowie unterschiedlichem sozialen und historischen Hintergrund sind. Łódź und Eisenhüttenstadt sind dabei (post)industrielle Städte, die früher stark von den dortigen Werken geprägt waren und mittlerweile vor allem unter Emigration leiden. Es geht darum, möglichst unterschiedliche Gruppen mit verschiedenen Erinnerungen an die Transformation anzusprechen. Wir zeigen immer den Film Crystal Swan über die Wendezeit in Belarus und sprechen mit dem Publikum anschließend über Verbindungen zu ihren eigenen Erfahrungen.

Am Tag nach der Filmvorführung gibt es in Eisenhüttenstadt noch einen ganztägigen Workshop. Worum geht es da?

Es ist ein nicht-öffentlicher Workshop mit höchstens zehn Menschen, die wir zusammen mit dem Museum Utopie und Alltag gefunden haben. Mit ihnen werden wir verschiedene Übungen machen, um ins Erinnern und Erzählen zu kommen. Für uns wird es am interessantesten, wenn die Teilnehmenden sich in ihren Erinnerungen widersprechen. Wir beobachten, ob es möglich ist, einen Dialog zwischen den verschiedenen Erinnerungen zu gestalten. Ganz wichtig: Dialog bedeutet dabei nicht, dass sie sich einigen müssen. Beim dialogischen Erinnern geht darum, Perspektiven zu teilen und die Geschichten der anderen zu akzeptieren, auch wenn sie nicht mit den eigenen übereinstimmen.

Wie liefen die Workshops bisher?

Es gab einige konfliktträchtige Situationen und auch schmerzhafte Erinnerungen. Wir arbeiten viel mit Objekten und bitten die Teilnehmenden, etwas mitzubringen. Darunter waren in Polen auch Pässe; für viele ein Zeichen für positive Erinnerungen, konnten sie damit doch erstmals reisen und Grenzen überqueren. Allerdings berichtete ein Teilnehmer auch von traurigen Erinnerungen, da er einst gezwungen war, Polen zu verlassen, um Geld zu verdienen.

Wie ist Ihre Rolle als Forschende in diesen Workshops?

Es war uns klar, dass das, was wir vorhaben, einen experimentellen Charakter hat und dass wir unsere Methode ständig überprüfen und anpassen werden. Das haben wir dann auch gemacht – von Workshop zu Workshop. Und wir observieren auch nicht nur. Wir sind teilnehmende Beobachter, oder wie wir sagen: beobachtende Teilnehmende. Wir sind ein Teil der Gruppe und teilen auch unsere Geschichten. Eigentlich in jedem Workshop sagen uns die Teilnehmenden, wie froh sie sind, dass sie endlich frei sprechen können, dass sich jemand für ihre Erfahrungen interessiert und ihre Erinnerungen respektiert. Ich finde das schön und traurig zugleich. Auch 35 Jahre nach der Wende leben die Menschen mit und durch diese Erinnerungen. Wenn wir unsere Arbeit westlichen Wissenschaftler*innen präsentieren, können die oft nicht verstehen, warum es so wichtig ist, in diesem Teil Europas, diese Gespräche zu haben.

Warum ist diese Art des dialogischen Erinnerns so wichtig?

Diese Erinnerungen sind kein Thema der Vergangenheit; sie prägen für die Menschen in Polen und Ostdeutschland die Gegenwart. In vielen europäischen Ländern nutzen politische Parteien diese Themen, um ihre Agenda voranzutreiben; das haben wir in Ungarn und Polen gesehen und es passiert auch in Deutschland. Es ist wichtig zu verstehen, wie politische Akteure die Transformationserinnerungen für ihre Zwecke nutzen. Wichtig ist auch die Erkenntnis: Die Kosten der Transformation waren in einigen Regionen sehr viel höher als in anderen – dazu gehören sicherlich Eisenhüttenstadt und Łódź. Viele Jahre lang gab es über diese schmerzhaften Erfahrungen kaum Gespräche.

Der Workshop in Eisenhüttenstadt ist der letzte. Wie geht das Projekt danach weiter?

Wir haben sehr viel Material auf Deutsch und Polnisch, das wir fortlaufend auswerten; das ist sehr viel linguistische Arbeit. Im Juni werden wir unser Abschlusstreffen in Konstanz abhalten und dort hoffentlich auch nochmal mit der bedeutenden Erinnerungsforscherin Aleida Assmann zusammentreffen – unser Konzept und die Methode des dialogischen Erinnerns begründet sich auf ihre Veröffentlichungen zu Erinnerung und Dialog. Schon ganz zu Beginn unseres Projektes konnten wir ihr in einem Online-Treffen von unserem Vorhaben erzählen. Sie hat uns sehr ermutigt.

Was wird von Ihrem Projekt danach bleiben?

Meine Kolleg*innen und ich arbeiten gerade an einer Sonderausgabe über dialogisches Erinnern für die Zeitschrift Memory Studies. Außerdem möchten wir ein methodisches Handbuch über dialogisches Erinnern erarbeiten, um es unter anderem mit unseren Partner-Institutionen zu teilen.

Interview: Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest


 Am Freitag, dem 24. Mai, 17.30 Uhr, findet der Filmabend im Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt, Erich-Weinert-Allee 3, statt. Gezeigt wird der Film Crystal Swan, in dem die Regisseurin Darya Zhuk die Geschichte der belarussischen Wendezeit in den 1990er-Jahren beleuchtet. Interessierte sind herzlich eingeladen an dem Filmabend teilzunehmen und im Anschluss über Parallelen zu ihren ostdeutschen Erfahrungen zu sprechen. Der Eintritt ist frei.