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Forschungsprojekt am Lehrstuhl

 

Die Ukraine als Palimpsest: deutschsprachige Literatur und ukrainische Welt von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart

Prof. Dr. Ievgeniia Voloshchuk

Gefördert durch Fritz Thyssen Stiftung

Projektzeitraum  2016-2018 (Erstbewilligung); 2018-2019 (Folgeantrag); 2020-2023 (Abschlussphase)
Beschreibung Anhand der repräsentativen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texte werden im Rahmen des Projektes die Bilder der multinationalen Ukraine erforscht und die bedeutendsten Entwicklungstendenzen der Ukraine-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur ergründet. Als basale Elemente der literarischen Ukraine-Konstruktionen gelten dabei die „(post)habsburgische“ und die „(post)russische“/“(post)sowjetische“ Rezeptionstraditionen, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur entwickelten und die heutigen literarischen Ukraine-Darstellungen immer noch wesentlich prägen. Die zentralen Rezeptionsperspektiven werden durch die Einbeziehung der Werke von zwei Autor*innengruppen erforscht. Zur ersteren zählen jene Schriftsteller*innen, welche die Ukraine als ein „fremdes“ bzw. “anderes“ Land erkunden. Zur zweiteren gehören die aus den ukrainischen Regionen stammenden Autor*innen, die ihre „kleine Heimat“ durch das Prisma der eigenen Migrationserfahrungen reflektier(t)en. Neben den traditionellen Ukraine-Repräsentationen, die aus der vorangehenden literarischen Rezeption hinlänglich bekannt sind, werden auch literarische Inszenierungen von neueren Topoi des aktuellen Ukraine-Diskurses untersucht. Der Forschungsfokus richtet sich dabei auf die durch Palimpsest-Metapher zusammengefassten Überlappungen verschiedener Darstellungs- und Kartierungsmuster im literarischen Ukraine-Bild, das im Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Erfindung steht.

Im Rahmen der Untersuchung werden vier Phasen der Entwicklung der literarischen Ukraine-Rezeption im deutschsprachigen Raum erforscht. Diese Phasen wurden durch den sich verändernden politischen Status der ukrainischen Territorien bestimmt und sind durch die Dominanz gewisser literarischer Konstruktionen des ukrainischen Raums gekennzeichnet.

Die erste Phase umfasst die Periode von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in der deutschsprachigen Literatur eine spektakuläre Entdeckung des ukrainischen Raums als einer „anderen Welt“ mit sich brachte, bis zum Anfang des Ersten Weltkriegs, welcher der bis dahin stabilen politischen Konfiguration des ukrainischen Territoriums ein jähes Ende setzte. In dieser Periode war der ukrainische Raum, der durch eine Grenze zwischen Österreich-Ungarn und dem zaristischen Russland determiniert war, für deutschsprachige Autoren das Synonym für ein Randgebiet beider Imperien.

Die zweite Phase bezeichnet die Zeitspanne zwischen 1914 und 1945, die sich durch zahlreiche Umgestaltungen des ukrainischen Raums auf politischen Landkarten charakterisiert. In der deutschsprachigen literarischen Ukraine-Rezeption dieser Zeit wird das Konzept des Grenzlandes dominierend, das in der Thematik des Zerfalls alter Imperien, des Scheiterns alter Weltordnungen, des Epochenumbruchs und der Entstehung neuer Staaten verankert ist.

Als dritte Phase wird im Forschungsprojekt die Periode zwischen 1945 und 1991 betrachtet, als die ehemaligen habsburgischen und russländischen Territorien in den Grenzen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik endgültig vereinigt wurden. In dieser Zeit werden die Thematisierungen verschiedener Katastrophen (Holocaust, Zweiter Weltkrieg, stalinistische Repressionen, politische und ethnische Gewalt, Nuklearkatastrophe von Tschernobyl usw.) und die nostalgische Beschwörung der Habsburger Idylle in den deutschsprachigen literarischen Repräsentationen des ukrainischen Raums tonangebend. Diese Tendenzen werden im Projekt im Begriff des „Traum(a)lands“ subsumiert.

Im Fokus der vierten Phase stehen die Ukraine-Konstruktionen in der deutschsprachigen Literatur nach 1991. Neben den Elementen der (post)habsburgischen und der (post)russischen/(post)sowjetischen Rezeptionstraditionen wird hier auch das poetologische Instrumentarium erforscht, das die deutschsprachigen Gegenwartsautor*innen für die Umkartierung der Ukraine von heute benutzen.

 

Masterarbeiten Dorothee Theresa Adam, MA-Arbeit: Die Konstruktionen von Eigen- und Fremdbildern auf dem Euromaidan – am Beispiel der Essaysammlung ‚Euromaidan – Was in der Ukraine auf dem Spiel steht‘ (2018)

Anna Fedosenko, MA-Arbeit: „Babij Jar als Erinnerungsort in der Ukraine? Literarische Auseinandersetzung von 1941 – 2014“ (2018)

Publikationen Ievgeniia Voloshchuk: Was bleibt auf den Ruinen der Imperien? (Re-)Visionen des Grenztopos Galizien in den Werken von Joseph Roth und Juri Andruchowytsch. In: Michaelis-König, Andree (Hg.): Auf den Ruinen der Imperien. Erzählte Grenzräume in der mittel- und osteuropäischen Literatur nach 1989. Berlin: Neofelis, 2018, S.29-46.

Dies.: Kult-Dichter vs. Kult des Dichters: Das Porträt Taras Schewtschenkos in „Die verhinderte Rede von Kiew“ von Friedrich Dürrenmatt. In: Porόwnania. Czasopismo poświęncone zagadnieniom komparatastyki literackiej oraz studiom interdyscyplinarnym, H. (2)21. Poznań, 2017, S. 171-178;

Dies.: Ja okončatel'no otreksja ot Vostoka: poslerevolucionnaja Rossija v dnevnikovych zapiskach Jozefa Rota o ego putešestvii po SSSR [Ich habe mich endgültig vom Osten losgesagt: das nachrevolutionäre Russland in Joseph Roths Tagebuchnotizen über seine Reise in die Sowjetunion]. In: Studia Culturae, H. 4 (34/2017), S. 149-155.

Dies.: Fenomen jevrejskoj Ukrainy i ego literaturnye proekcii [Das Phänomen der jüdischen Ukraine und seine literarischen Projektionen]. Collegium, H. 27, Kiew 2017, S. 161-171.

Dies.: Vaterland, Heimat und Theater: Topoi der Theaterkritik im autobiografischen Roman Da geht ein Mensch von Alexander Granach. In: Brittnacher, Hans Richard/ Lühe, Irmela von der: Kriegstaumel und Pazifismus. Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Frankfurt /M.: Peter Lang, 2016, S.353-369.

Dies.: Juden auf Wanderschaft: Die Verkehrsmittel in Hiob Joseph Roths. In: Pacyniak, Jolanta / Pastuszka, Anna (Hg.): Zwischen Orten, Zeiten und Kulturen. Zum Transhistorischen in der Literatur. Frankfurt/M: Peter Lang, 2016, S. 145-155.

Dies.:“... aus den dunkelsten Tiefen der Verzweiflung und des Verzichtens“: Stefan Zweigs Galizien-Bilder in Zeiten des Ersten Weltkriegs, in: Małgorzata Dubrowska/Anna Ruthka (Hg): Reise in die Tiefe der Zeit und des Traums – (Re-)Lektüren des ostmitteleuropäischen Raumes aus österreichischer, deutscher, polnischer und ukrainischer Sicht, Lublin: Wydawnictwo KUL, 2015, S. 43–54.

Dies.: Vodojmyšča sozialsizmu, tvist na Červonij plošči ta „nezručnyj“ Ševčenko: try pogljady Fridricha Djurrenmatta na Radjans’kyj Sojuz 1964 r. [Wasserbecken des Sozialismus, Twist auf dem Roten Platz und der „unbequeme“ Ševenko: Drei Ansichten Friedrich Durrenmatts auf die Sowjetunion aus dem Jahr 1964], in: Ulrich Weber/Ievgeniia Voloshchuk/Alexander Chertenko (Hg): Minotawr u labirunti: tworist‘  Fridricha Djurrenmatta mizh tradycijeju ta subversijeju“, Kiew: Dmytro Burago Verlag, 2015, S. 83–115.

Dies.: Galicijskoje pograni ‘je v tvorčestve Josefa Rota [Grenzland Galizien in Joseph Roths Œuvre]. In: Jurij Girin (Hg.): Problemy kul’turnogo pograni ‘ja. Pamjati professora V.B. Zemskova. Мoskau: Maxim-Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften, 2014, S. 419–441.

Dies.: Čy možlyvo zibraty rozkydane kaminnja? Generacijni konsteljaciji v romani „Jov” Josefa Rota [Kann man zerstreute Steine sammeln? Generationskonstellationen in Joseph Roths „Hiob“]. In: Slovo i as. Naykovo-teorety nyj žurnal, H. 11 (2014), S. 60–78.

Dies.: Die ukrainische Welt in Essayistik und Prosa Joseph Roths. In: Hans Richard Brittnacher u. Wiebke Amthor (Hg.): Joseph Roth — Zur Modernität des melancholischen Blicks, Berlin, New York: De Gruyter, 2012, S. 151–163.

Borys Bigun: Na granice meždu ukrainskoj i jevrejskoj kulturami: tvorčestvo Vja
eslava Šnajdera [An der Grenze zwischen der ukrainischen und der jüdischen Kultur: das Werk von Vjačeslav Šnajder]. Collegium, H. 27, Kiew 2017, S. 192-197.

Ders.: ‚Bluždajuščije zvjozdy‘: konferencija o jevrejskich pisateljach [‚Blondzhende Stern‘: Die Konferenz über die jüdischen SchriftstellerInnen aus der Ukraine]. Collegium, H. 27, Kiew 2017, S. 158-160.

Alexander Chertenko: Galicija i preodolenie prošlogo v sbornike esse Lotara Bajera „Meždu vostokom i zapadom“ [Galicien und die Vergangenheitsbewältigung in Lothar Baiers „Ostwestpassagen. Kulturwandel — Sprachzeiten“]. In: Spadčyna I.Ja.Navumenki i aktual’nyja prablemy litaraturaznaŭstva. Zbornik naukovych atykulaŭ, 2016 (3), S. 163-167.

Projektteam Prof. Dr. Ievgeniia Voloshchuk (Projektleiterin)

Dr. Borys Bigun (Literaturwissenschafter)
Mgr. Alexander Chertenko (Literaturwissenschaftler)