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Internationaler Workshop: Nachwuchswissenschaftler:innen entdecken jüdisches Kulturerbe in Westpolen

Vom 5. bis 10. September 2021, für fast eine ganze Woche, trafen sich 25 Studierende, Postdocs, Wissenschaftler:innen und Vor-Ort-Aktivist:innen aus Deutschland, Polen und der Ukraine zu einem Workshop in Międzyrzecz. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Annäherung an das jüdische Kulturerbe Westpolens und die Gewinnung von Multiplikator:innen. Dabei wurden Grundlagen der wissenschaftlichen Dokumentation jüdischer Friedhöfe vermittelt und mit der Geschichte der Juden in der Region verknüpft. Die Exkursionen ließen die Teilnehmenden verschiedene Begräbnisorte und ihre Umgebung kennenlernen und brachten sie mit unterschiedlichen Akteur:innen ins Gespräch, die sich heute diesem besonderen Kulturgut widmen. 

0921_Workshop_JuedischesKulturerbe_Miedzyrzecz ©Lehrstuhl für Denkmalkunde

Zur Einstimmung auf das Bevorstehende diente am Sonntag ein Spaziergang durch Międzyrzecz (Meseritz), während dem Andrzej Kirmiel, der Leiter des Museum des Meseritzer Landes, einen Einblick in die bis ins Mittelalter zurückreichende Geschichte der Stadt vermittelte. Von großem Interesse waren hierbei die gravierenden Veränderungen zu Ende des Zweiten Weltkrieges und der Zeit nach 1945, die das heutige Stadtbild und insbesondere das jüdische Viertel prägen. Abschließend bestieg die Gruppe den Bus, um sich unter sachkundiger Leitung von dem ein Bild zu machen, was von den jüdischen Friedhöfen des alten Meseritz’ – dem Gemeindefriedhof und dem Friedhof der Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde – übriggeblieben ist. 

Andrzej Kirmiel Museum - Maryla Wojtaszyn ©Maryla Wojtaszyn

Von Grenzverschiebungen und jüdischem Leben in nichtjüdischer Umgebung

Am folgenden Montagvormittag begab sich die Gruppe dann auf die Reise zu den jüdischen Spuren in der Region. Hier wurde besonders auf die Problematik der unzähligen Grenzverschiebungen eingegangen, die das Leben der Juden inmitten einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft bestimmten. Leszek Hońdo bot eine anschauliche Einführung in die Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Polen anhand kunsthistorischer Entwicklungen. Ein Schwerpunkt bildete der Blick auf die Situation der „nachdeutschen“ Friedhöfe in ganz Polen seit 1945. Dies betraf evangelische, katholische und jüdische Friedhöfe gleichermaßen. Der Vortrag problematisierte auch ein 1959 von der polnischen Regierung erlassenes Gesetz zur Regelung von Friedhofsangelegenheiten und dessen langfristige Auswirkungen. 

Magdalena Abraham-Diefenbach und Anke Geißler-Grünberg stellten anschließend Ziel und Inhalte des laufenden Forschungsprojektes zur Dokumentation der jüdischen Friedhöfe im historischen Ostbrandenburg vor. Ausgehend von der Bedeutung, die jüdische Friedhöfe noch heute besitzen, machte der Blick hinter die Kulissen der diesem Projekt zugrunde liegenden Online-Datenbank deutlich, wie aufwendig die Einpflege sämtlicher Forschungsdaten ist. Den Nachmittag rundete eine geführte und beeindruckende Besichtigung der durch das NS-Regime angelegten Festungsfront „Oder-Warthe-Bogen“ (Ostwall) sowie eine Führung durch das mehrfach überformte Zisterzienser-Kloster Paradyż (Paradies) ab. Den Abschluss des Tages bildete ein vergnügliches Abendessen mit Bratwürsten, orientalischen Köstlichkeiten und einem Lagerfeuer innerhalb der Burgruine von Międzyrzecz. Bei Sonnenuntergang begrüßten die Teilnehmenden außerdem gemeinsam das neue jüdische Jahr 5782 mit einem Glas Wein.

Museum Anke - Maryla Wojtyszyn ©Maryla Wojtaszyn

Wie liest man jüdische Lebensdaten?

Der Dienstagvormittag widmete sich dem Friedhof als explizit jüdischem Ort. Der erste Vortrag führte in den jüdischen Kalender ein, der zu einem tieferen Verständnis der auf Grabsteinen verwendeten Lebensdaten nötig ist. Der anschließende Vortrag über die räumliche Gestaltung jüdischer Friedhöfe konzentrierte sich auf die Ausrichtung und Gestaltung von Grabanlagen und Grabfeldern entsprechend religiös begründeter Vorgaben und bewährter Traditionen, die mit sich verändernden Realitäten in Einklang gebracht werden mussten. Der Nachmittag fand dann auf dem besterhaltenden und größten jüdischen Friedhof der Region, in Skwierzyna (Schwerin an der Warthe), statt. Gil Hüttenmeister erklärte an ausgewählten Grabsteinen, die hier seit der Mitte des 18. Jh. errichtet wurden, Inschriften, Symboliken und Besonderheiten, die er im Rahmen seiner derzeitigen Dokumentationstätigkeit erfasst und kommentiert.

Skwierzyna - Michal Piasek (2) ©Michał Piasek

Im Abendprogramm vertiefte er diese Erkenntnisse an weiteren Beispielen. Erich Busse unterzog das Denken und Agieren der evangelischen Kirche während der NS-Zeit einer kritischen Betrachtung. Er beleuchtete außerdem den langsamen Erkenntnisprozess innerhalb der Kirche, die Mitverantwortung für die an den Juden begangenen Verbrechen zu übernehmen, die u.a. zum Entstehen von Aktion Sühnezeichen geführt hatte. 

Skwierzyna - Michal Piasek ©Michał Piasek

Wenn dem Denkmalamt die Hände gebunden sind ...

Am Mittwoch standen Formen, Gesteinsmaterialien, Symbole und Dekore der Grabsteine sowie die auf ihn eingravierten Inschriften im Zentrum eines näheren Kennenlernens. Am Nachmittag fuhr die Gruppe zum weitgehend zerstörten jüdischen Friedhof in Gorzów Wielkopolski (Landsberg an der Warthe), wo sie der Leiter des dortigen Denkmalamtes Błażej Skaziński empfing. Enttäuschend war, dass es seiner Behörde nicht möglich ist, auf diesem Friedhof restauratorisch wirksam zu werden und die in direkter Nachbarschaft lebende Bevölkerung für dessen Schutz und Erhalt zu sensibilisieren.

Gorzow - Justyna Hrabska ©Justyna Hrabska

Ein Teil der Gruppe beseitigte im Anschluss Müll, der auf dem Friedhof verstreut herumlag. Ein anderer Teil versuchte sich an der Entschlüsselung von Inschriften erhalten gebliebener Grabsteine. Bevor das Abendessen in einem innerstädtischen Restaurant serviert wurde, bot Robert Piotrowski einen kleinen Einblick in das jüdische Viertel der Stadt und den Gedenksteinen, die noch an seine Existenz erinnern.

Jüdische Grabsteine freilegen und entschlüsseln

Der Donnerstag stand ganz im Zeichen praktischer Arbeit. Die gesamte Gruppe, sowie fünf Mitstreitende der Aktion Sühnezeichen und zwei Kollegen des zuständigen Forstamtes trafen sich früh am jüdischen Friedhof in Trzemeszno Lubuskie (Schermeisel). Zunächst ging es darum, den starken Bewuchs zu beseitigen und liegende Grabsteine zu erkennen, freizulegen und zu säubern. Um die schweren Grabsteine wieder aufzurichten, kam immer wieder ein bemerkenswerter, selbstgebauter Kran von Aktion Sühnezeichen zum Einsatz. Ein Journalist des Senders Deutschlandfunk führte Interviews mit verschiedenen Aktivisten. 

Trzemeszno - Justyna Hrabska (2) ©Justyna Hrabska

Unsere Gruppe besuchte ebenfalls ein Vertreter der Gemeinde Sulęcin (Zielenzig). Die anschließende Mittagspause mit angelieferter Pizza entwickelte sich zu einem Gedankenaustausch. Anschließend widmete sich ein Teil der Gruppe der Dokumentation von Grabstein-Inschriften. Der andere Teil fertigte einen Lageplan für 114 zu erfassende Grabmale an, vergab systematisch Nummern, fotografierte sie auf dieser Grundlage und nahm die jeweiligen Abmaße auf. Nach Abschluss der Arbeiten am frühen Abend machte der Friedhof einen sehr würdigen Eindruck. Zurück im Hotel, erzählte der pensionierte Lehrer Zbigniew Czarnuch vom Engagement eines breiten Bündnisses in seiner Heimatstadt Witnica (Vietz) zur Wiederherstellung des dortigen jüdischen Friedhofs. Die Mitstreitenden von Aktion Sühnezeichen berichteten dann über ihre Beweggründe, jüdische Friedhöfe Instand zu setzten und erklärten technische Details zu ihrer Restaurierung.

Fazit: Nachhaltig Akzente gesetzt

Am letzten Tag ging es noch einmal zu zwei Friedhöfen, die bereits in der Datenbank hinterlegt sind. In Brójce (Brätz) konnten sich die Teilnehmenden davon überzeugen, wie das kollektive Gedenken auf dem zerstörten jüdischen und auf dem direkt daneben liegenden kommunalen Friedhof aussieht: ein Gedenkstein und nur noch wenige Artefakte auf der einen, aber opulente, bunt geschmückte Gräber auf der anderen Seite. Der mitten im Wald und an einem malerischen See liegende Friedhof in Trzciel (Tirschtiegel) präsentierte sich hingegen trotz sichtbaren Substanzverlusts als großer, geschlossener Begräbnisplatz, der unterschiedlichste Grabsteine von der Mitte des 18. Jahrunderts bis in die 1920er Jahre in sich vereinigt. Auch hier war ein Gedenkstein aufgestellt worden, der dem in Brójce gleichgestaltet ist. Im Museum folgte eine Abschlussrunde, in der alle Teilnehmenden ihre Erwartungshaltungen Revue passieren ließ und Möglichkeiten der Vernetzung und Fortsetzung einer Zusammenarbeit artikulierten. 

Trzemeszno - Justyna Hrabska ©Justyna Hrabska

Das Fazit zeigte: Durchgehend spätsommerliche Temperaturen und trockenes Wetter, eine sehr gute Unterbringung und Verköstigung, die Verfügbarkeit eines Reisebusses und eines exzellenten Dolmetschers sowie die großzügige Bereitstellung der Räumlichkeiten und Infrastruktur durch das Museum des Meseritzer Landes bildeten optimale Rahmenbedingungen für das Gelingen des prall gefüllten Programms. Die hohe Motivation und das freundschaftliche Miteinander aller Teilnehmenden trugen dazu bei, dass dieser Workshop nachhaltige Akzente setzte.

Organisiert wurde dieser Workshop durch den Lehrstuhl für Denkmalkunde an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), das Institut für Judaistik der Jagiellonen Universität Krakau, den Lehrstuhl für Neuere Geschichte (deutsch-jüdische Geschichte) der Universität Potsdam, das Institut für angewandte Geschichte – Gesellschaft und Wissenschaft im Dialog e.V. in Frankfurt (Oder) sowie das Museum des Meseritzer Landes in Międzyrzecz als gemeinsame Veranstaltung. Partner waren hierbei das Ministerium für Kultur, nationales Erbe und Sport der Republik Polen sowie das Taube Center for Jewish Life and Learning in Warschau. Der Workshop stand unter der Schirmherrschaft des Landrates des Kreises Międzyrzecz. Gefördert wurde er durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien. 

Anke Geißler-Grünberg, Berlin, 20. September 2021