Kants Kritik der Urteilskraft im Kontext des Kolonialkapitalismus

Vortrag von Ruth Sonderegger (Akademie der bildenden Künste, Wien)

Brown Bag Lecture 

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15.05.2025, 13-14 Uhr, GD 204
Europa-Universität Viadrina, Europaplatz 1, Frankfurt (Oder) anschließend Diskussion mit interessierten Gästen, Imbiss & Getränke.

Anlässlich des 300. Geburtstages von Immanuel Kant wurden die umstrittenen Fragen, ob Kant der Legitimierung des Kolonialkapitalismus zugearbeitet hat und inwiefern er bis zum Ende seines Lebens rassialisierende Kategorien verwendet, ja verteidigt hat, erneut mit großer Heftigkeit diskutiert. Die Kritik der Urteilskraft erweist sich in dieser Kontroverse als besonders aufschlussreich. Denn Kants dritte Kritik macht deutlich, dass die Problematik des Rassismus und des Kolonialkapitalismus keineswegs nur in Kants sog. vorkritischen Schriften oder in den Vorlesungen zur Geografie und zur Anthropologie eine Rolle spielen, sondern im Zentrum seines transzendentalphilosophischen Projekts verankert sind. Dies versucht Ruth Sonderegger auf dem Weg der Entwicklung von drei Thesen zu erhärten: (1) Die scheinbar widersprüchlichen Behauptungen zur Ästhetik im ersten Teil von Kants Kritik der Urteilskraft – zunächst sind alle denkenden Wesen zu ästhetischen Urteilen fähig, später nur einige wenige – sowie die oft als rätselhaft beschriebene Beziehung zwischen Kants Ästhetik und dem zweiten Teil der dritten Kritik zur Teleologie der Natur erweisen sich als völlig kohärent, wenn sie mit Charles W. Mills’ The Racial Contract betrachtet werden. (2) In einem zweiten Schritt zeigt der Vortrag dann, dass Kants dritte Kritik nicht nur implizit auf einer Unterscheidung zwischen wahrhaft menschlichen Wesen im Gegensatz zu ‚untermenschlichen‘ menschlichen Wesen beruht; vielmehr wird diese Unterscheidung in Kants Kritik der Urteilskraft explizit ausgearbeitet und verteidigt. Dabei erweist sich, dass die rassistischen Differenzierungen, um die Kants Kritik der Urteilskraft kreisen, nicht auf die kantische Ästhetik beschränkt werden können. Vielmehr strukturiert Kants Konzeptualisierung des interesselosen Subjekts der ästhetischen Erfahrung als besonders zivilisiertem Wesen westliche Ästhetiken bis in die Gegenwart. Deshalb geht es Ruth Sonderegger (3) um den Nachweis, dass es nicht ausreicht, die Ausschlüsse der kantischen Ästhetik anzuerkennen und allen Menschen den Zugang zu jener Art von ästhetischer Sensibilisierung in Richtung Autonomie zu gewähren, die Kant einigen wenigen ausgewählten Männern vorbehält. Vielmehr muss das autonome, distanzierte und uninteressierte Subjekt, das im Zentrum von Kants Ästhetik und schließlich auch seiner Ethik steht, zugunsten eines heteronomen, relationalen Subjekts in Frage gestellt werden; genauer gesagt zugunsten eines sich entsubjektivierenden Subjekts.

Ruth Sonderegger ist Professorin für Philosophie und ästhetische Theorie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Bis 2009 leitete sie den Lehrstuhl „Metaphysik und ihre Geschichte“ an der Universiteit van Amsterdam. Nach dem Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft in Innsbruck, Konstanz und Berlin promovierte sie 1998 an der FU Berlin. Schwerpunkte in der Lehre sind Geschichte der westlichen Ästhetik, Cultural Studies, politische Philosophie und kritische Theorien. Ihre derzeitigen Forschungsschwerpunkte umfassen (1) die koloniale Dimension der Formierung der westlichen Ästhetik im 18. Jahrhundert; (2) der Beitrag von Kunst und Kultur (Theorien) zur sog. ursprünglichen Akkumulation; (3) Theorien und Praktiken der Kritik.
Zu ihren jüngeren Publikationen zählen: Art and the Critique of Ideology After 1989 (hg. mit E. Birkenstock, M. J. Hinderer Cruz und J. Kastner, 2013); Pierre Bourdieu und Jacques Rancière. Ästhetisches Regime oder ästhetische Disposition? (hg. mit J. Kastner, 2014); Vom Leben der Kritik. Kritische Praktiken – und die Notwendigkeit ihrer geopolitischen Situierung (2019); Polyphone Ästhetik (hg. mit Christoph Brunner, Sofia Bempeza, Katharina Hausladen und Ines Kleesattel, 2019). Demnächst erscheint „The Racial Power of Judgment. Reading Kant’s Third Critique with and against Charles W. Mills“ (Revista de Estudios Kantianos, in Vorbereitung 2025). Ruth Sonderegger ist Mitglied des Publikations- und Verlagskollektivs transversal.at.

https://www.akbild.ac.at/de/universitaet/mitarbeiterinnen/97EB71A48D2D8741
https://accumulation-race-aesthetics.org/

Europa-Universität Viadrina, Lehrstuhlteam Kulturphilosophie/ Philosophie der Kulturen in Zusammenarbeit mit dem Forschungsprojekt „Perception, Jurisdiction, and Valorization in Colonial Modernity“.
Mit freundlicher Unterstützung der VolkswagenStiftung.

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Prof. Dr. Katja Diefenbach

Professur für Kulturphilosophie/Philosophie der Kulturen